Transformativer Realismus. Marc Saxer

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aber ist dann die soziale Struktur der neoliberalen Gesellschaft so stabil? Wären sie wirklich die einzigen Gewinner, könnten die Multimilliardäre auf sich alleine gestellt den Verteilungsschlüssel wohl kaum aufrechterhalten. Und tatsächlich haben die Kapitaleliten Verbündete, die von der aktuellen Situation profitieren: Es sind die funktionalen Mittelschichten, die den Status quo absichern. In den Informations- und Wissensökonomien wächst die Rolle der kreativen und akademischen Klassen. Materiell profitieren nicht alle Kreativen und Akademiker von der neoliberalen Suspendierung der Verteilungsfrage. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Wissenschaftler, Journalisten, Künstler oder Freelancer leben in materiell prekären Verhältnissen. Dank ihres hohen kulturellen Kapitals (Pierre Bourdieu) erfahren die funktionalen Mittelschichten dennoch Anerkennung als Mitglieder der »guten Gesellschaft«.

      Die Allianz mit den funktionalen Mittelschichten hat den inoffiziellen neoliberalen Gesellschaftsvertrag zumindest zeitweise verändert. Stand zu Beginn noch die autoritäre Durchsetzung der Kapitalinteressen im Vordergrund, werden im progressiven Neoliberalismus die kulturellen Forderungen der kosmopolitischen15 Bündnispartner berücksichtigt. Der Preis für die Ausblendung materieller Verteilungsfragen ist die kulturelle Anerkennung bisher marginalisierter Gruppen. Auf der Ebene der symbolischen Anerkennung haben daher die Kämpfe um die Gleichberechtigung von Frauen beziehungsweise die Inklusion der sexuellen, ethnischen und religiösen Minderheiten Fortschritte erzielt. An der wirtschaftlichen Benachteiligung dieser Gruppen hat sich allerdings, mit Ausnahme der LGBTQ-Gemeinschaft, wenig geändert. Ob diese kulturellen Fortschritte die harten Verteilungskämpfe um die Kosten der Coronakrise überdauern werden, ist offen. Denn unter dem rechtspopulistischen Banner steht mit den alten Mittelklassen bereits ein alternativer Bündnispartner für einen autoritären Neoliberalismus bereit. Wie sich in Polen und Ungarn zeigt, wären in dieser Konstellation die emanzipatorischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte gefährdet.

      Kapitel 7

      Wer zahlt die Zeche für die Krise?

      Die Coronakrise hat in Europa eine Rezession ausgelöst. Die deutsche Wirtschaft wuchs zwar im Sommer wieder kräftig, die darauffolgende Verschärfung der Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens belastete die Konjunktur aber erneut. Im Süden Europas waren die wirtschaftlichen Folgen verheerender. Die Hoffnungen, das Wachstum werde nach einem kurzen, scharfen Einbruch schnell zurückkehren (V-Verlauf), sind in Südeuropa mittlerweile zerstoben. Nun muss alles darangesetzt werden, eine jahrzehntelange Phase säkularer Stagnation mit unkalkulierbaren Folgen für die Demokratie und den sozialen Frieden zu verhindern.

      Über das Management der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise bestand noch ein breiter Konsens. Die global vernetzten Märkte des Finanzkapitalismus gleichen einem Kartenhaus. Bricht es an einer Stelle ein, laufen die Schockwellen durch alle Systeme und können ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben. Aus der Großen Depression der 1930er-Jahre, aber auch aus dem Kollaps der Lehman Brothers Investmentbank 2008 haben wir gelernt, dass die Selbstreinigungskräfte des Marktes nicht ausreichen, um mit einer Schuldenwelle fertig zu werden, die Banken, Pensionskassen und Unternehmen in den Abgrund reißt. Kurzfristig gibt es also tatsächlich kaum eine andere Lösung, als diese Schulden in die Rechnungsbücher der Staaten zu überschreiben16.

      Doch wie geht es weiter, wenn die unmittelbare Krise überwunden ist, die Volkswirtschaften aber weiter im Loch aus Niedrigzinsen, Investitionsstau und Konsumschwäche hängen? Wie das gelingen kann und welche Rolle die Geld- und Finanzpolitik dabei spielen sollten, ist umstritten. Sollte der Staat auch mittelfristig die Nachfrage stärken? Darf die Europäische Zentralbank (EZB) weiter Anleihen kaufen?

      Die staatlichen Rettungspakete für die Realwirtschaften waren teuer. Allein das deutsche Konjunkturpaket kostete etwa 130 Milliarden Euro; zählt man die zusätzlichen Ausgaben, Hilfen und Stundungen hinzu, die den Haushalt belasten, liegt die Summe mehr als doppelt so hoch17. Der Einbruch der Wirtschaftstätigkeit dürfte zudem erhebliche Steuerausfälle zur Folge haben. Die Übernahme der Schulden des Privatsektors erhöht den Verschuldungsstand mancher europäischer Staaten um bis zu 20 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes. Die Eurokrise lehrt uns, dass diese Schulden langfristig nicht in den Büchern der Staaten bleiben dürfen, ohne eine Staatsschuldenkrise zu verursachen.

      Wie aber können die Staaten ihre Finanzen konsolidieren? Wer zahlt die astronomischen Kosten der Rettungsschirme? Werden die Multimilliardäre, die kräftig von der Krise profitiert haben, mit einer Vermögenssteuer in die Verantwortung genommen? Konsolidieren die Staaten ihre Finanzen über weitere Anleihekäufe der Zentralbanken? Oder werden die Kosten wieder über harte Sparprogramme der Bevölkerung abverlangt? Mit anderen Worten: Wer zahlt die Zeche für die Krisen?

      Wenn es nach dem Willen der Ordoliberalen geht, sollen die Staatsschulden wieder über Austerität abgetragen werden – dieses Mal auch in Deutschland, das bisher im Gegensatz zu Großbritannien oder Südeuropa von harten Sparprogrammen verschont geblieben ist. Statt mit Investitionen die am Boden liegende Wirtschaft aufzupäppeln, soll der Staat also sparen. Italien oder Griechenland leiden noch immer unter den Folgen der Austeritätsprogramme, die dem Wirtschaftskreislauf die dringend benötigte Nachfrage entziehen. Springt das Wachstum nicht wieder an, hat das zudem den perversen Effekt, dass die Schuldenquote trotz der harten Sparprogramme immer weiter ansteigt. Im eisernen Käfig der Austerität können sich die Volkswirtschaften Südeuropas nicht erholen. Mit ihrer Dauerkrise gefährden sie die gesamte Eurozone.

      Gesamtwirtschaftlich ist das im Amerikanischen als starving the beast bekannte Aushungern des Wohlfahrtstaates also fatal. Der von einer Rezession geschwächten Wirtschaft Kaufkraft zu entziehen macht in etwa so viel Sinn wie der mittelalterliche Aderlass schwerkranker Patienten. Heute weiß die moderne Medizin, dass diese Rosskuren viel schlimmer waren als die Krankheit, die sie zu heilen versprachen. Unter ordoliberalen Volkswirten setzt sich diese Erkenntnis aber erst langsam durch.

      Dabei haben die ordoliberalen Gewissheiten ordentlich Schiffbruch erlitten. Der allwissende Markt musste bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts von den verachteten Staaten gerettet werden. Die Politik der einseitigen Entlastung der Angebotsseite hat die Produktivität nicht wie erhofft steigern können. Im Gegenteil, die ordoliberalen Zauberlehrlinge haben auch noch eine Nachfragekrise heraufbeschworen.

      Auch der neoklassische Glaube an den freien Markt hat sich als Chimäre erwiesen. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat gezeigt, dass sich Märkte nicht auf ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, Kapital und Arbeit einpendeln, weil zwischen den Marktteilnehmern riesige Macht- und Informationsunterschiede bestehen. Entgegen der Annahmen der Neoklassiker hat die übergroße Mehrheit der Marktteilnehmer keine Wahl, ob sie ihre Arbeitskraft verkaufen, wo sie Steuern zahlen und was sie konsumieren. Andere Marktteilnehmer sind dagegen so mächtig, dass sie Regierungen erpressen, Konkurrenten ausschalten und den Marktzugang versperren können. Die stärkeren Platzhirsche können das »freie Spiel der Marktkräfte« also jederzeit manipulieren oder gleich ganz aussetzen.

      Die Monetaristen wiederum können nicht erklären, warum die befürchtete Inflation bislang ausbleibt, obwohl die Geldmenge seit Jahren aufgebläht wird. Ganz im Gegenteil zeigt sich, dass die lockere Geldpolitik der Zentralbanken nicht ausreicht, um die deflationären Tendenzen in den Griff zu bekommen, die wie ein Damoklesschwert über den westlichen Volkswirtschaften schweben. Die gigantischen Konjunkturpakete verschaffen den Realwirtschaften zwar kurzfristig eine Atempause. Doch so schnell wie der Hahn aufgedreht wurde, wird er meist nach dem Ende des Notstandes auch wieder zugedreht. Während Europas Dauermisere den Beweis erbringt, dass wirtschaftliche Erholung unter dem Diktat der Austerität nicht möglich ist, zeigt die jahrzehntelange Stagnation in Japan, dass Nullzinsen und Konjunkturprogramme bestenfalls die Deflation in Schach halten können, aber ohne weitere Maßnahmen nicht ausreichen, um eine Volkswirtschaft aus der Dauerkrise zu befreien.

      Auch die neoliberale Ideologie,

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