Transformativer Realismus. Marc Saxer
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Quer durch die politischen Lager wachsen die Zweifel, ob es wirklich so klug war, die Bereitstellung öffentlicher Güter zu privatisieren. Der Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab, hält den Neoliberalismus für gescheitert und fordert einen Neuanfang, der den Kapitalismus in ein von einem starken Staat garantiertes System von Regeln einbettet (Great Reset)18. Der französische Präsident verspricht, die Privatisierungen zurückzudrehen. Immer offener flirten selbst Mainstream-Ökonomen mit der modernen Geldtheorie (Modern Monetary Theory)19, die für Staaten mit souveräner Währung wesentlich höhere Schuldenstände zur Finanzierung öffentlicher Investitionen für vertretbar hält. Die Angst vor den Staatsschulden beginnt sich zu verflüchtigen.
Ist das Zeitalter der Austerität wirklich vorbei? Denjenigen, die nun das Ende des Neoliberalismus verkünden, sollte die Finanzkrise von 2008 als Warnung dienen. Auch damals wurden Rettungsschirme aufgespannt und die Wirtschaft mit gigantischen Konjunkturpaketen stimuliert. Die Konsolidierung der von diesen Mammutaufgaben zerrütteten Staatsfinanzen wurde aber nicht den mit dem Geld der Steuerzahler geretteten Banken in Rechnung gestellt, sondern über Austeritätsprogramme der Bevölkerungsmehrheit aufgebürdet, vor allem den Transferempfängern staatlicher Leistungen im unteren Drittel der Gesellschaft.
Mit anderen Worten, die Verluste wurden sozialisiert und die Gewinne privatisiert. Im Ergebnis wuchs die soziale Ungleichheit auf historische Höchststände, während die Konzentration von Macht und Ressourcen an der Spitze der Gesellschaft immer weiter zunimmt. Linke Theoretiker wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben oder die kanadische Aktivistin Naomi Klein sehen daher in der Politik des Ausnahmezustands keineswegs unbeabsichtigte Unfälle, sondern eine besonders perfide Art, den Katastrophenkapitalismus zu regieren.
Warum sind den Reichen und Mächtigen ausgeglichene Haushalte überhaupt wichtiger als nachhaltiges Wachstum und Vollbeschäftigung? Welches politökonomische Ziel steht hinter Steuerkürzungen und Schuldenbremse? Wer profitiert von dem Dogma, dass sich der demokratische Staat nicht in den Markt einmischen dürfe? Die Antwort liegt auf der Hand: Es sind die Großbanken und Großkonzerne, die nun ohne lästige Gemeinwohlbelange über die Geld-, Steuer- oder Handelspolitik entscheiden können. Ein Staat ohne nachhaltige Einkommensbasis ist abhängig von seinen Kreditgebern. Ein vom Finanzkapital abhängiger Staat kommt nicht auf die dumme Idee, die Finanzmärkte unter demokratische Kontrolle zu stellen. Stattdessen wird er Staatseigentum privatisieren, um Haushaltslöcher zu stopfen. Die Geschäftsbanken können ungestört weiter Geld schöpfen. Investmenthäuser mit diesem billigen Geld spekulieren. Explodierende Vermögenswerte machen die Superreichen noch reicher. Vor allem aber stärkt der Deflationsdruck die Gläubiger, darunter viele Banken, auf Kosten der Schuldner, in der Mehrheit Unternehmen und Haushalte.
Würde der Fiskus dagegen die Nachfrage ankurbeln, und damit den Zentralbanken dabei helfen, ihr Inflationsziel von 2 Prozent zu erreichen, würden sich die Kräfteverhältnisse in der politischen Ökonomie verschieben. Die Aussicht auf steigende Preise motiviert die Konsumenten, lieber heute zu konsumieren, als auf morgen zu warten. Die Aussicht auf Profite motiviert die Unternehmen, wieder zu investieren. Und eine angemessene Inflationsrate erleichtert es Unternehmen und Haushalten, ihre Kredite zurückzuzahlen. Springt die Konjunktur endlich an, können die Zentralbanken moderat die Zinsen erhöhen und so langsam die Schwemme billigen Geldes austrocknen. Unternehmer, Sparer, Mieter und Konsumenten würden profitieren. Die Verlierer wären die Finanzmarktakteure. Mit anderen Worten: Die »Schwarze Null« ist ein Konjunkturprogramm für die 1 Prozent auf Kosten der 99 Prozent.
Großbanken und Staaten sind Wettbewerber bei der Versorgung der Realwirtschaft mit Geld und Kredit. Halten harte Haushaltsregeln die Staaten davon ab, zu investieren, werden die Banken zur einzigen Quelle von Geld und Kredit. Wie groß die Machtposition ist, die aus dieser Monopolstellung erwächst, haben wir in der letzten Finanzkrise erlebt. Die Banken waren vermeintlich too big to fail, konnten also die Staaten erpressen, sie zu »retten«. In der Verteilungsfrage, wer die Kosten der gigantischen Rettungspakete zu tragen hatte, setzte sich wieder das Großkapital durch: Die Gewinne blieben bei den Kapitaleignern, die Kosten wurden an die Bevölkerung durchgereicht.
Sind die Großbanken und Großkonzerne so mächtig, dass sie das allein durchsetzen konnten? Nein, vom Status quo profitieren auch Millionen Rentiers. Denn dem Heer an Schuldnern stehen Gläubiger gegenüber, die ein Interesse an stabilen Zinszahlungen haben. Das Letzte, was diese Gläubiger gebrauchen können, ist eine hohe Inflationsrate, die es ihren Schuldnern erlauben würde, sich ihrer Schulden elegant zu entledigen. Und der beste Weg, die deflationären Tendenzen zu verstärken, sind Austeritätsprogramme, auch wenn diese wie in Südeuropa die Realwirtschaften über ein Jahrzehnt im Würgegriff halten20.
Diese Analyse der politischen Ökonomie verdeutlicht, warum die Reichen und Mächtigen wieder auf Sparpakete setzen, koste es, was es wolle. Ein weiteres Jahrzehnt Austerität darf es aber nicht geben. Denn auf dem Spiel steht nicht nur, ob die Wirtschaft aus der Coronarezession zurück auf einen nachhaltigen Wachstumspfad geführt werden kann. Im eisernen Käfig der Austerität werden auch dringend notwendige Investitionen zur Bekämpfung des Klimawandels versäumt. Der Markt kann diese Investitionen in Forschung und Entwicklung, die Europa braucht, um technologisch nicht zurückzufallen, allein nicht bereitstellen. Die populistischen Revolten überall auf dem Kontinent zeigen, dass die Bürger nicht noch einmal willens sind, die Zeche für die Rettung der Superreichen zu zahlen.
Eine zweite Möglichkeit, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, besteht darin, die Vermögendsten zur Kasse zu bitten. Während Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt verloren haben, haben die Reichsten der Reichen kräftig von den Rettungspaketen profitiert. Es wäre also mehr als fair, sie entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur Bewältigung der Krisenfolgen zu verpflichten. Höchste Zeit also, Vermögens-, Erbschafts- und Finanztransaktionssteuern einzuführen und Steueroasen trockenzulegen. Denkbar ist auch eine einmalige Vermögensabgabe, wie der Lastenausgleich zur Abtragung der Staatsschulden nach dem Zweiten Weltkrieg. Solange jedoch nicht alle Staaten an einem Strang ziehen, reicht schon ein Mausklick, um die Vermögen dem Zugriff des Fiskus zu entziehen. Das Volumen zusätzlicher Steuereinnahmen dürfte daher hinter den Erwartungen bleiben. Wie die obige Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zeigt, dürfte die Heranziehung der Vermögenden politisch nur schwer durchsetzbar sein. Das darf aber kein Argument sein, es nicht trotzdem zu versuchen.
Die expansive Geldpolitik …
Bleibt als einziger Ausweg die Überschreibung der Staatsschulden in die Bücher der Zentralbanken21. Der unbegrenzte Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB seit 2015 verfolgt genau dieses Ziel. Die europäischen Staaten können so zu günstigen Zinsen auf den Finanzmärkten ihre Liquidität sicherstellen. Bleiben die Kosten des Schuldendienstes gering, können sich Staaten auch hohe Schulden leisten. Durch die Aufblähung der Geldmenge könnten diese langsam weginflationiert werden.
Die Aussicht auf Inflation löst in Deutschland sofort Ängste aus. Gebrannt von der traumatischen Erfahrung der Hyperinflation in den Anfangsjahren der Weimarer Republik fürchten die Deutschen nichts so sehr wie die Geldentwertung. Darüber vergessen sie gerne, dass es die Deflationspolitik Brünings war, die Massenarbeitslosigkeit und Verelendung den Boden bereitete und damit die »Machtergreifung« der Nazis begünstigte. Angesichts weltweit explodierender Arbeitslosenzahlen, schwachen Lohnsteigerungen und historisch niedriger Rohstoffpreisen ist das Risiko, dass die Erhöhung der Geldmenge heute eine Hyperinflation auslöst, überschaubar22. Daher bleibt auch nach über einem Jahrzehnt des Gelddruckens die Inflation bisher aus. Wie ein Damoklesschwert hängt jedoch die drohende Deflation über den europäischen Volkswirtschaften. Die Zentralbanken haben also keine Wahl, als weiter Liquidität in die Märkte zu pumpen. Um die strauchelnden Volkswirtschaften Europeas im Jahr der Coronakrise zu