Warum der freie Wille existiert. Christian List
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Genügt diese Beobachtung, um den freien Willen gegen die Herausforderung durch den Determinismus zu verteidigen?21 Die Antwort auf diese Frage ist ein entschiedenes Nein. Zunächst wird die Quantenmechanik selbst unterschiedlich interpretiert. Alle sind sich einig darüber, dass die Quantenmechanik eine Art von „Oberflächen-Indeterminismus“ befürwortet: Die zukünftige Flugbahn des Photons, wenn es auf den Spiegel trifft, lässt sich selbst dann nicht vorhersagen, wenn seine Vergangenheit vollständig bekannt ist. Genauso wenig können wir selbst bei vollständiger Kenntnis der vergangenen Geschichte eines Uranatoms vorhersagen, wann es zerfallen wird. Aber hier endet der Konsens. Während einige Wissenschaftler zu dem Schluss kommen, dieser Oberflächen-Indeterminismus beweise, dass die Welt prinzipiell indeterministisch sei (eine Ansicht, die durch die Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik gestützt wird)22, bestreiten andere diese Folgerung. Von Einstein stammt der Ausspruch: „Gott würfelt nicht“, womit er nicht so sehr die Quantenmechanik selbst infrage stellte als vielmehr ihre in seinen Augen unbefriedigende indeterministische Interpretation.23
Zu den Interpretationen der Quantenmechanik, die diesen Indeterminismus vermeiden, gehören jene, die von dem Konzept der sogenannten „verborgenen Variablen“ ausgehen, wonach die Unberechenbarkeit der Quantensysteme auf unserer Unkenntnis gewisser verborgener Variablen beruht, das heißt, bestimmter Bestandteile der Realität, die zwar objektiv existieren, aber nicht beobachtbar sind. Sie bestimmen sozusagen stillschweigend, wie sich das System entwickelt. Bei dem Beispiel des halbtransparenten Spiegels wird die verborgene Variable das Photon entweder auf den Kurs der Reflektion gebracht haben oder auf den Kurs der Transmission. Nur wissen wir vor der Durchführung des Experiments nicht, welchen Wert die verborgene Variable erhalten hat. Aus diesem Grund haben wir es hier mit einem Fall von Unvorhersehbarkeit zu tun – wir können also nicht vorhersagen, was mit dem Photon geschehen wird – aber, und das ist entscheidend, nicht mit einem Fall von Indeterminismus.
Die Details solcher Interpretationen, die von verborgenen Variablen ausgehen, sind kompliziert. Wir wissen aus der mathematischen Physik, dass das Postulat „lokaler“ verborgener Variablen, die mit lokalen Prozessen wie etwa einzelnen Photonen verbunden sind, nicht generell funktionieren kann (ein Resultat, das aus der sogenannten „Bellschen Ungleichung“ folgt). Stattdessen müssten die verborgenen Variablen „global“ sein, das heißt, sie müssten mit dem physikalischen System als Ganzem verbunden sein. Ungeachtet dieser Details zeigt die bloße Möglichkeit einer deterministischen Deutung der Quantenmechanik, dass die Quantenmechanik als solche den Determinismus nicht ausschließt.
Wichtiger noch ist indes, dass die besten physikalischen Theorien, über die wir gegenwärtig verfügen, nicht das letzte Urteil über die Naturgesetze fällen. Bekanntermaßen sind die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie, die momentan besten Theorien mikroskopischer und makroskopischer Systeme, nicht miteinander vereinbar. Und es besteht kein Konsens darüber, wie man sie miteinander in Einklang bringen oder über sie hinausgehen könnte, sodass dieser Konflikt vermieden würde. Man muss deshalb fairerweise sagen, dass in der Frage, ob die große vereinheitlichte Theorie der Physik, wenn man sie denn jemals finden wird, die Welt als indeterministisch repräsentieren wird, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
Festzuhalten ist auch, dass der bloße Beweis des Indeterminismus der Welt auf irgendeiner mikroskopischen Ebene für die Verteidigung des freien Willens nicht genügt, selbst wenn wir uns allein auf die Forderung alternativer Möglichkeiten beschränken. Wir müssten ebenfalls zeigen, dass sich diese mikrophysikalischen Unbestimmtheiten auf die makroskopische Ebene ausweiten, wo sie alternative Handlungsmöglichkeiten für den Handelnden eröffnen können. Wäre der Indeterminismus auf die mikrophysikalische Ebene beschränkt und würden alle Unbestimmtheiten auf der makrophysikalischen Ebene wieder verblassen, so wäre das nicht genug für einen freien Willen. Der libertarische Philosoph Robert Kane hat behauptet, dass das menschliche Gehirn Mechanismen bereitstelle, durch die sich Quantenunbestimmtheiten auf die makroskopische Ebene ausweiten, aber es gibt bisher noch keine Einigkeit über die Rolle, die der quantenmechanische Indeterminismus gegebenenfalls für das Funktionieren des Gehirns spielen könnte.24
Selbst wenn wir alle diese Hindernisse überwinden und zeigen könnten, dass die fundamentalen physikalischen Unbestimmtheiten bewirken, dass einem Akteur mehrere Handlungsalternativen offenstehen, gäbe es schließlich immer noch die Sorge, dass durch diese Unbestimmtheiten bloß der Zufall in das menschliche Verhalten eingeführt wird, aber nicht der freie Wille. Würde sich der Indeterminismus im Zufall erschöpfen, wäre es unklar, wie genuin freie Entscheidungen zwischen vorhandenen Optionen möglich wären, im Gegensatz zu bloß zufälligem Herauspicken. Wie zum Beispiel Carl Hoefer bemerkt:
„Aus Gründen, die als erster Kant begriff, hilft der Indeterminismus auf der mikrophysikalischen Ebene nicht weiter. Die Zufälligkeit, die sich, wenn überhaupt, nur bei Mikrophänomenen findet, scheint nicht für den freien Willen „Platz zu schaffen“, sondern ersetzt eine hinreichende physikalische Ursache nur durch den (zumindest teilweise) blinden Zufall.“25
Die vorliegende Herausforderung für den freien Willen ist daher gewaltig, ganz gleich, ob die zukünftige Physik den Determinismus rechtfertigen wird oder nicht.
Die Herausforderung des Epiphänomenalismus
Die dritte Herausforderung für den freien Willen entsteht auch dann, wenn die ersten beiden Herausforderungen zufriedenstellend beantwortet werden können. Auch sie lässt sich als ein Argument mit zwei Prämissen zusammenfassen:
Prämisse 1: Der freie Wille erfordert die Kontrolle eines Akteurs über seine oder ihre Handlungen; diese Handlungen dürfen nicht bloß durch nichtintentionale Prozesse, sondern müssen durch die relevanten mentalen Zustände verursacht werden, insbesondere durch die Absichten des Akteurs.
Prämisse 2: Aus wissenschaftlicher Sicht ist alles, was ein Akteur tut, vollständig durch nichtintentionale Prozesse verursacht; die Absichten des Akteurs sind höchstens Nebenprodukte der zugrundeliegenden physikalischen Ursachen.
Die erste Prämisse gibt unsere dritte Bedingung für den freien Willen wieder: die Bedingung kausaler Kontrolle. Die zweite Prämisse drückt die These aus, dass das Verhalten des Handelnden eine rein physikalische Ursache habe: So etwas wie „mentale Verursachung“, das heißt Verursachung durch die mentalen Zustände des Handelnden, gebe es nicht. Diese geistigen Zustände seien bestenfalls Nebenprodukte der zugrundeliegenden physikalischen Prozesse, sogenannte „Epiphänomene“, die selbst keine kausalen Wirkungen haben. Ich werde diese These „Epiphänomenalismus“ nennen. Wenn wir die beiden Prämissen miteinander verbinden, gelangen wir offensichtlich zu folgender Konklusion:
Konklusion: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen freien Willen.
Die erste Prämisse, die Bedingung kausaler Kontrolle, habe ich bereits verteidigt. Aber warum sollte man die zweite Prämisse, die Epiphänomenalismus-These, akzeptieren? Wenn ich beabsichtige, meine Hand zu heben und entsprechend dieser Absicht handle, ist es dann nicht offenkundig wahr, dass die Handlung durch meine Absicht verursacht ist und nicht durch etwas Anderes? Vielleicht gibt es eine Hintergrundgeschichte dazu, wie mein Gehirn und mein Körper diese Prozesse auf einer neuronalen Ebene verwirklichen, aber die Handlung ist, wie es scheint, dennoch unter meiner Kontrolle. Meine Absicht, und nichts anderes, ist der kausale Ursprung der Handlung; das nehmen wir zumindest normalerweise an.