Warum der freie Wille existiert. Christian List
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Meine anfängliche Skizze der Bedingungen für einen freien Willen ist damit abgeschlossen. Ich habe dafür argumentiert, dass die Willensfreiheit, in ihrer paradigmatischen Form, eine dreiteilige Fähigkeit ist: Sie erfordert intentionales Handeln, alternative Möglichkeiten und kausale Kontrolle. Außerdem ist eine bestimmte Handlung dann frei ausgeführt, wenn die Handlung intentional ist, wenn der Handelnde anders hätte handeln können und die Handlung unter der kausalen Kontrolle des Handelnden ist. Ich wende mich nun der Frage zu, ob wir wirklich einen so verstandenen freien Willen haben.
Kapitel 2
Drei Herausforderungen
Ich habe dafür argumentiert, dass jeder Besitzer eines freien Willens – eine Person etwa oder ein Organismus – ein intentionaler Akteur sein muss; dieser Akteur muss imstande sein, zwischen alternativen Möglichkeiten zu wählen; und er oder sie (oder es) muss die kausale Kontrolle über die resultierenden Handlungen haben. Aber können wir tatsächlich einen in diesem Sinne freien Willen haben? Wie passt die Willensfreiheit zu einer wissenschaftlichen Weltsicht?
Es gibt mindestens drei Herausforderungen für den freien Willen. Ich werde sie „die Herausforderung des radikalen Materialismus“, „die Herausforderung des Determinismus“ und „die Herausforderung des Epiphänomenalismus“ nennen. Diese Herausforderungen beziehen sich im Wesentlichen auf die drei von mir formulierten Bedingungen der Willensfreiheit. Ziel dieses Kapitels ist es, diese drei Herausforderungen zu erläutern. Ich beginne mit der ersten Herausforderung, welche die Bedingung des intentionalen Handelns ins Visier nimmt.
Die Herausforderung des radikalen Materialismus
Wir können diese Herausforderung in dem folgenden einfachen Argument zusammenfassen. Es leitet die Nichtexistenz des freien Willens aus zwei Prämissen ab:
Prämisse 1: Der freie Wille erfordert intentionales Handeln.
Prämisse 2: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es kein intentionales Handeln. Der Begriff des intentionalen Handelns ist ein Relikt aus der Alltagspsychologie sowie aus einer überholten wissenschaftlichen Psychologie und wird irgendwann zugunsten einer neurowissenschaftlichen Theorie menschlichen Verhaltens aufgegeben werden.
Die erste Prämisse gibt die erste unserer drei Bedingungen für den freien Willen wieder. Die zweite Prämisse bringt die These des „radikalen Materialismus“ zum Ausdruck, die ich gleich näher erläutern werde. Es sollte offensichtlich sein: Wenn wir diese beiden Prämissen akzeptieren, dann müssen wir die folgende Konklusion akzeptieren:
Konklusion: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen freien Willen.
Aber sollen wir die beiden Prämissen akzeptieren? Für die erste Prämisse habe ich bereits argumentiert. Wie steht es jedoch mit der zweiten Prämisse, der Behauptung, dass es in einer wissenschaftlichen Weltsicht keinen Platz für intentionales Handeln gebe? Auf den ersten Blick erscheint es absurd, die Realität intentionalen Handelns zu leugnen. Schließlich ist die Vorstellung, dass die Menschen intentionale Akteure sind, die sich mental ein Bild von der Welt machen und mit ihren Handlungen Ziele und Zwecke verfolgen, zentral für unser Verständnis menschlichen Verhaltens. Die Common-Sense-Psychologie, die wir im Alltag verwenden, um unsere Mitmenschen zu verstehen und uns in der sozialen Welt zurechtzufinden, baut auf dieser Vorstellung auf. Man bedenke nur die Rolle, die Begriffe wie Überzeugung, Wunsch, Präferenz und Absicht für unser Verständnis der Mitmenschen spielen. Selbst die einfachsten menschlichen Interaktionen wie etwa der Einkauf in einem Geschäft verlassen sich auf bestimmte Annahmen darüber, was andere Menschen denken, wollen, erwarten und beabsichtigen. Alle diese Begriffe sind mit der Vorstellung verbunden, dass Personen intentionale Akteure sind.
Abgesehen von den täglichen Interaktionen stützen sich auch viele Theorien in den Sozialwissenschaften auf die Vorstellung intentionalen Handelns. Die Haushaltstheorie in der Volkswirtschaftslehre, um nur ein Beispiel zu nennen, betrachtet die Marktteilnehmer als rationale, nutzenmaximierende Akteure. Es wäre für uns praktisch unmöglich, menschliches Verhalten zu erklären und vorherzusagen, würden wir Menschen nicht als intentional Handelnde betrachten, die in ihrem Handeln durch Überzeugungen und Wünsche geleitet werden. Nichtsdestoweniger haben einige „materialistische“ Denker wie die beiden Neurophilosophen Patricia und Paul Churchland kraftvoll dafür argumentiert, dass diese Sichtweise nicht die beste wissenschaftliche Betrachtungsweise der menschlichen Psychologie ist.1
Es wird weithin akzeptiert, dass die Phänomene der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Verhaltens letztlich das Resultat komplexer biologischer und physikalischer Vorgänge im Gehirn und Körper des Menschen sind. Auf einer ganz elementaren Ebene ist der menschliche Organismus eine biophysische Maschine. Viele Wissenschaftler und Philosophen sprechen sich für die als „Materialismus“ oder „Physikalismus“ bekannte Weltsicht aus. Dabei handelt es sich, grob gesprochen, um die Auffassung, dass alle in der Welt anzutreffenden Phänomene entweder selbst physikalische Phänomene sind oder zumindest das Resultat physikalischer Phänomene: Alles, so der philosophische Jargon, „superveniert“ auf dem Physikalischen. Ich habe diese Vorstellung bereits in der Einleitung erwähnt. Chemische Prozesse zum Beispiel sind auf physikalische Prozesse zurückzuführen; die Gesetze der Quantenmechanik untermauern die Art und Weise, wie Moleküle aus Atomen zusammengesetzt sind und aufeinander wirken. Biochemische Prozesse sind auf chemische und physikalische Prozesse zurückzuführen. Man denke an Vorgänge wie die Fotosynthese oder die Zellbiochemie. Die Biologie ist ein Produkt der Chemie, die ihrerseits ein Produkt der Physik ist. Psychologische Prozesse schließlich sind auf physikalische, chemische und biologische Prozesse zurückzuführen. Sie sind in einem physikalischen System realisiert, dem menschlichen Gehirn und Körper. Dieser Organismus funktioniert auf der Basis einer großen und komplexen Menge an chemischen Reaktionen, und das Gehirn und das Nervensystem verarbeiten Informationen mittels elektrischer Signale. Wenn wir eine physikalistische Weltsicht akzeptieren, haben wir keinen Grund zu glauben, dass das Gehirn und der Körper, und damit auch der menschliche Geist, außerhalb der Gesetze der Physik stehen. Sie werden vielmehr von denselben fundamentalen Gesetzen bestimmt wie der Rest der Natur. In eben diesem Sinne sind Menschen biophysische Maschinen.
Bedenken Sie nun aber, dass es in physikalischen Systemen normalerweise keine Intentionalität gibt. Das heißt, solche Systeme besitzen keine mentalen Repräsentationen von der Welt, das heißt keine Überzeugungen, Ziele und Absichten. In physikalischen Systemen sind im Grunde genommen nur Mechanismen und gesetzesartige Strukturen zu finden. Intentionalität ist keine Eigenschaft physikalischer Systeme. Es wäre deshalb seltsam, anzunehmen, dass der menschliche Organismus, der ja selbst ein physikalisches System ist, eine Ausnahme darstelle und auf irgendeine Weise die Eigenschaft intentionalen Handelns erwerbe.
Unsere Neigung, Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen Absichten zuzuschreiben, ist nach dieser Vorstellung einfach etwas, das sich in der Evolution als vorteilhaft erwiesen hat. Sie erlaubte es unseren Vorfahren, sich bestimmte Verhaltensregularitäten verständlich zu machen und diese vorherzusagen. Unsere Vorfahren stießen zufällig auf eine nützliche Fiktion, nämlich dass die Welt von intentionalen Akteuren bewohnt sei. Jäger, die das Verhalten ihrer Beute als zweckgerichtet deuteten, zum Beispiel, wenn sich ein Tier versteckte, waren erfolgreicher als andere Jäger, die das zielgerichtete Verhalten bei ihrer Beute übersahen. Als unsere Vorfahren darüber hinaus anfingen, ihre Mitmenschen als intentionale Akteure zu verstehen und sich gegenseitig mentale Zustände zuzuschreiben, verschaffte ihnen das Vorteile in ihrem Zusammenleben und bei der Koordination ihrer Tätigkeiten. Unter anderem ermöglichte es ihnen, zunehmend komplexe Gesellschaften zu bilden. Erinnern wir uns nur daran, wie wichtig es in unserem alltäglichen Leben ist, die mentalen Zustände anderer Menschen zu verstehen.
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