Warum der freie Wille existiert. Christian List

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Warum der freie Wille existiert - Christian List

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Handlungsmöglichkeiten stärker einschränken. Nadia Chernyak und ihre Kollegen kommen zu dem Schluss, dass „die grundlegenden Vorstellungen von freier Wahl universell gegeben sind“, aber dass „das Bewusstsein sozialer Verpflichtungen als Einschränkungen des Handelns möglicherweise der Effekt kulturellen Lernens ist“.6

      Unterm Strich ist das Bild des menschlichen Akteurs als eines frei Wählenden, der Kontrolle über seine oder ihre Handlungen ausübt, ebenso geläufig wie tief verwurzelt in unserem Denken.7

      Was hängt von der Willensfreiheit ab?

      Der freie Wille ist eine wesentliche Voraussetzung unseres praktischen Überlegens und Entscheidens und gehört zum Kern unseres Selbstverständnisses als Handelnde. Es wäre problematisch, uns ernsthaft zu fragen: „Was soll ich tun?“, ohne dabei vorauszusetzen, dass wir frei wählen können. Wenn man verschiedene Handlungsweisen gegeneinander abwägt, muss man jede von ihnen als eine reale Möglichkeit betrachten, die man tatsächlich verfolgen könnte. Andernfalls wäre unsere Überlegung sinnlos, da es nicht wirklich in unserer Hand läge, so oder anders zu handeln. So dachte auch Kant, dass wir einen freien Willen voraussetzen müssen, um uns als rationale und moralische Wesen verstehen zu können. Freiheit muss „als Eigenschaft des Willens aller vernünftiger Wesen“ vorausgesetzt werden. Die Vernunft „muss sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muss sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden“.8

      Der freie Wille steht auch im Zentrum unserer Praxis der gegenseitigen Zuschreibung von Verantwortung in der Moral und im Recht. Für das, was Menschen nicht aus freiem Willen getan haben, loben und tadeln wir sie gewöhnlich nicht. Und wir glauben auch nicht, dass ihre Einwilligung, etwas Bestimmtes zu tun, im moralischen oder rechtlichen Sinne gültig ist, wenn es ihnen an freiem Willen mangelt. Rechtlich gesehen erfordert eine Straftat, insbesondere eine schwere Straftat wie Mord oder Körperverletzung, aber auch Diebstahl, normalerweise „sowohl eine freiwillige Tat als auch die Absicht, Unrecht zu tun“9, was nach üblichem Verständnis Willensfreiheit voraussetzt. Selbst dann, wenn wir eine Person der Fahrlässigkeit beschuldigen und für etwas haftbar machen, ohne ihr eine Absicht zu unterstellen, nehmen wir implizit an, dass sie ihrer Sorgfaltspflicht hätte nachkommen können statt fahrlässig zu handeln, zum Beispiel, wenn die Person aus Unvorsichtigkeit etwas vergessen oder aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit oder Trunkenheit einen Unfall verursacht hat. Die Annahme hier ist, dass die Person anders hätte handeln können, und sei es nur im Vorfeld ihrer Tat, zum Beispiel, indem sie besser aufgepasst hätte. Dies setzt voraus, dass irgendwo in der betreffenden Kette von Ereignissen ein freier Wille vorhanden war.10

      Dagegen erkennt das Recht seit langem an, dass eine Person im strafrechtlichen Sinne nicht für ihr Tun haftbar ist, wenn sie aufgrund von unbeherrschbaren Umständen, wie etwa infolge einer stark beeinträchtigten psychischen oder physischen Verfassung, einen Schaden verursacht. Welche Art von Entschuldigungen in einer bestimmten Strafsache akzeptiert werden, wird zwar in unterschiedlichen Rechtsprechungen unterschiedlich gesehen, aber Entschuldigungen aufgrund von „psychischer Erkrankung“, „Automatismen“ oder „unwiderstehlichen Impulsen“ werden doch in einer Vielzahl von Rechtsprechungen anerkannt. Natürlich ist der Beweis dafür, dass jemand wirklich an einer solchen Beeinträchtigung leidet, schwer zu erbringen, und die erbrachten Beweise sind oftmals nicht ganz eindeutig. Aber der begriffliche Sachverhalt bleibt doch bestehen: Das Vermögen der Willensfreiheit wird weithin als notwendige Voraussetzung dafür betrachtet, dass man jemanden moralisch und rechtlich für sein Tun verantwortlich machen kann.11

      Wie der Rechtshistoriker Thomas Andrew Green festgestellt hat, ist das Strafrecht „auf jeder Ebene vom Problem der Willensfreiheit betroffen: bei der Definition von Straftaten, bei der Beurteilung von Verantwortlichkeit, einschließlich der von uns angewendeten Verfahren, zu einer solchen Beurteilung zu kommen; und bei unserem Umgang mit den für schuldig Befundenen, sei es im formellen Sinne der Institutionen des Strafvollzugs oder der medizinischen Behandlung, sei es im informellen Sinne der sozialen Ansichten bezüglich der Schuldigen.“12 Und als Beispiel dafür, welche Rolle der freie Wille im Zivilrecht spielt, beachte man, dass das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch ausdrücklich auf den freien Willen hinweist: als einer Bedingung für die Geschäftsfähigkeit, das heißt, der Fähigkeit zur Änderung der eigenen Rechte, Pflichten und Verpflichtungen, wenn man zum Beispiel Verträge abschließt oder heiratet.13

      Es lässt sich nur schwer vorstellen, wie Moral und Recht sich ändern müssten, wenn man herausfände, dass der freie Wille eine Illusion ist. Was die Moral angeht, so müssten wir die Praxis überdenken, uns gegenseitig für unser Handeln verantwortlich zu halten bzw. zu machen, und im Recht müssten wir zentralen Begriffen wie Freiwilligkeit und Schuldfähigkeit eine neue Bedeutung geben oder sie vielleicht sogar ganz ersetzen. Psychologische Untersuchungen deuten außerdem darauf hin, dass „der Zweifel am freien Willen Aggressionen steigert und die Hilfsbereitschaft verringert“14, dass er die Bereitschaft zum Betrügen erhöht15 und die Unterstützung für die Vergeltungsstrafe schwächt, das heißt für die Strafe, die auf der Vorstellung beruht, dass Menschen für das von ihnen verschuldete Unrecht eine Strafe verdienen.16 Jean-Paul Sartre bemerkte, dass „wir immer bereit [sind], uns in den Glauben an den Determinismus zu flüchten, wenn diese Freiheit uns belastet oder wir eine Entschuldigung brauchen“.17

      Natürlich gibt es auch einige, wie etwa den Philosophen Derk Pereboom und den Neurowissenschaftler Sam Harris, die dafür argumentieren, dass wir nicht auf Moral und Recht verzichten müssen, wenn wir die Nichtexistenz des freien Willens akzeptieren. Im Gegenteil: „Ohne freien Willen zu leben“ könnte auch positive Seiten haben.18 Kritiker der Vergeltungsstrafe zum Beispiel mögen wissenschaftliche Entwicklungen begrüßen, die unsere gewöhnlichen Vorstelllungen von Verantwortung und Verdienst infrage stellen, weshalb ihnen die Skepsis hinsichtlich des freien Willens willkommen sein könnte. Wie Pereboom uns erinnert: „Die Stoiker vertraten die Ansicht, dass wir Einstellungen wie Kummer und Zorn mit der Hilfe deterministischer Überzeugungen jederzeit verhindern oder ausmerzen können.“19

      Aber auch wenn wir im Allgemeinen den Zweck der Strafe nicht in der Vergeltung sehen, sondern vielmehr in der Verhinderung von Straftaten und in der Resozialisierung von Straftätern, lässt sich nicht leugnen, dass die Vorstellung des freien Willens und verantwortlichen Handelns von zentraler Bedeutung für viele Aspekte menschlicher Gesellschaften ist.20 Man muss deshalb fairerweise sagen, dass es einer weitreichenden Revision unseres Verständnisses der conditio humana bedürfte, wenn wir aufhörten, an die Existenz des freien Willens zu glauben.21

      Kurzum: Dem Common Sense zufolge ist die Willensfreiheit eine menschliche Fähigkeit von ebenso zentraler Bedeutung wie die Fähigkeiten des Denkens und Sprechens. Die Herausforderung für die Naturwissenschaft und die Philosophie besteht darin, zu klären, ob wir tatsächlich über diese Fähigkeit verfügen, und wenn ja, wie diese Fähigkeit zu unserer übrigen wissenschaftlichen Weltsicht passt.22

      Willensfreiheit versus soziale Freiheit

      Bevor ich die Voraussetzungen für den freien Willen ausführlicher diskutiere, möchte ich die Willensfreiheit von anderen Freiheitsbegriffen unterscheiden. Die Willensfreiheit darf nicht mit sozialer, politischer oder ökonomischer Freiheit verwechselt werden. Es lohnt sich daher, kurz zu erklären, was diese anderen Arten von Freiheit ausmacht. Sie haben alle mit den Einschränkungen und Chancen zu tun, mit denen wir in unserem sozialen, politischen und ökonomischen Umfeld konfrontiert sind, und gehören zu den Dingen, die den meisten von uns sehr am Herzen liegen. Der Kürze halber werde ich einfach von „sozialer Freiheit“ sprechen. Wenn Freedom House, eine einflussreiche Nichtregierungsorganisation, Länder danach beurteilt, wieviel Freiheit sie gewähren, geht es dabei um soziale Freiheit und nicht um die in diesem Buch diskutierte Willensfreiheit im psychologischen oder handlungsbezogenen Sinn. Die Aussage, dass Nordkorea seinen Bürgern wenig soziale Freiheit gewähre, ist kein Urteil über die psychologischen Fähigkeiten

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