Warum der freie Wille existiert. Christian List
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Warum der freie Wille existiert - Christian List страница 9
Willensfreiheit und ihre Ausübung
Wie bereits bemerkt, richtet sich mein primäres Interesse in diesem Buch auf den freien Willen als einer Fähigkeit des Handelnden. Einen freien Willen zu haben, ist also eine Eigenschaft einer Person, einer anderen Entität oder eines Organismus, die oder der sich als Akteur eignet. Sie ist nicht an eine bestimmte Handlung gebunden. Gleichzeitig ist es durchaus sinnvoll, hinsichtlich einer jeden Handlung zu fragen, ob diese Handlung auf den freien Willen des Handelnden zurückzuführen ist. War diese Handlung frei?
Ich werde sagen, dass eine Handlung genau dann „frei ausgeführt“ ist, wenn
•sie eine intentionale Handlung ist, das heißt, wenn sie in geeigneter Weise durch die Intentionen des Handelnden gestützt wird;
•es dem Handelnden möglich ist, anders zu handeln; und
•die Handlung unter der Kontrolle des Handelnden ist.
Die Frage, ob eine bestimmte Handlung diese Eigenschaften hat, ist offensichtlich eine andere als die Frage, ob der betreffende Akteur einen freien Willen qua allgemeiner Fähigkeit hat. Ein Schlafwandelnder mag unter normalen Umständen durchaus einen freien Willen haben und dennoch während des Schlafs unberechenbare Dinge tun, die mit dieser Fähigkeit nichts zu tun haben. Ebenso mag ein Betrunkener nicht länger imstande sein, von seinem freien Willen Gebrauch zu machen, wenn er einmal berauscht ist, obschon er die freie Wahl getroffen hat, die entsprechenden Getränke zu sich zu nehmen.
Wenn wir beweisen wollen, dass man jemanden für etwas, das er oder sie getan hat, verantwortlich machen kann, müssen wir nicht nur wissen, ob die betreffende Person die Fähigkeit eines freien Willens im Allgemeinen hat, sondern ob das, was sie tat, aus der Ausübung dieser Fähigkeit resultierte. Wir müssen insbesondere wissen, ob das, was die Person tat, frei ausgeführt wurde, und zwar in dem durch die obigen Bedingungen charakterisierten Sinn. War es eine intentionale Handlung? Hätte die Person anders handeln können? Hatte sie die Kontrolle über ihre Handlung? Wenn hingegen das, was sie tat, nicht frei ausgeführt wurde, müssen wir wissen, ob der freie Wille der Person zumindest im Vorfeld ihrer Tat präsent war: Gab es beispielsweise zunächst eine freie Entscheidung der Person, sich zu betrinken? Für ihre moralische Verantwortung mag zwar durchaus mehr erforderlich sein (was ihrerseits eine schwierige philosophische Frage ist), aber ich halte die Präsenz des freien Willens irgendwo in der fraglichen Kette von Ereignissen für eine notwendige Bedingung einer markanten Form von moralischer Verantwortung.
Obschon es schwierig sein mag, genau zu sagen, wieviel Willensfreiheit für die moralische Verantwortung erforderlich ist, sollte der grundlegende Gedanke doch klar sein. Die erratische Bewegung des Schlafwandlers zum Beispiel ist als solche keine freie Handlung; genauso wenig ist sein freier Wille in relevanter Weise im Vorfeld seiner Bewegung beteiligt. Deshalb kann er für das, was er beim Schlafwandeln tut, nicht verantwortlich gemacht werden. Falls er dagegen weiß, dass er eine Neigung zum Schlafwandeln hat, und es dazu kommt, dass er während einer solchen Episode jemanden erschießt, können wir ihn dafür verantwortlich halten, dass er keine vernünftigen Vorkehrungen dagegen getroffen hat. Er sollte beispielsweise keine Pistole auf seinem Nachttisch liegen lassen. Ebenso wenig mag die betrunkene Person frei handeln, sobald sie einmal stark berauscht ist, weshalb ihre Autofahrt im betrunkenen Zustand nicht als mit freiem Willen ausgeführt gelten mag. In dem Maße aber, in dem ihre ursprüngliche Entscheidung zu trinken von ihr kontrolliert wurde und sie keine Vorkehrungen dagegen traf, im angetrunkenen Zustand zu fahren (indem sie beispielsweise den Wagen zuhause ließ oder den Autoschlüssel einer anderen Person gab), war ihr freier Wille im Vorfeld dessen, was sie tat, beteiligt, und sie könnte deshalb dafür verantwortlich gemacht werden. Wie die Prozessanwältin Deborah C. England schreibt: „Trunkenheit ist keine Entschuldigung für kriminelles Verhalten, aber sie kann die angetrunkene Person des geistigen Vermögens berauben, diejenige Absicht auszubilden, die rechtlich erforderlich ist, um sie bestimmter Verbrechen für schuldig zu befinden.“ Sie fügt jedoch hinzu: „[S]ofern ein Verbrechen durch rücksichtsloses Verhalten oder Fahrlässigkeit definiert ist, wird Trunkenheit wahrscheinlich kein Verteidigungsgrund sein, weil vorhersehbar ist, dass der Genuss von Alkohol zu rücksichtslosem oder fahrlässigem Verhalten führt.“36
Verantwortung ist selbstverständlich ein kompliziertes Problem (und auf jeden Fall ein anderes Thema), ebenso wie die Zuschreibung von Handlungen: Was genau bedeutet es, dass ein vorliegendes Ereignis oder Verhalten die intentionale Handlung eines bestimmten Akteurs ist?37 Mit diesen Problemen werde ich mich hier nicht im Detail auseinandersetzen können. Meine Anmerkungen sollten aber genügen, um die Unterscheidung zwischen der Willensfreiheit als einer Fähigkeit und der Ausübung dieser Fähigkeit anschaulich herauszustellen.
Willensfreiheit als graduelles Phänomen
Abschließend ist zu bemerken, dass wir die Willensfreiheit nicht als etwas auffassen müssen, das man entweder ganz oder überhaupt nicht hat. Wir können auch Fälle von einem nur partiell freien Willen anerkennen – entweder im Falle eines Handelnden oder im Falle einer spezifischen Handlung – bei denen nur eine oder zwei, aber nicht alle drei Bedingungen erfüllt sind; oder alle drei Bedingungen sind erfüllt, aber nur in einem begrenzten Maße. Vielleicht verfügt der oder die Handelnde nur in einem begrenzten Umfang über die zum Handeln notwendigen Fähigkeiten. Oder seine oder ihre kausale Kontrolle über eine bestimmte Handlung ist in irgendeiner Weise kompromittiert, wenn auch nicht vollständig abwesend.
Wie gehen wir mit solchen Grenzfällen um? Wo genau ziehen wir die Grenze zwischen jemandem, dessen Wille frei ist, und dem, der keinen freien Willen hat? Und ebenso: Wo ziehen wir die Grenze zwischen Handlungen, die als frei ausgeführt zu gelten haben, und solchen, für die dies nicht gilt? Sobald wir die drei Bedingungen der Willensfreiheit vollständig präzisiert haben, sollten wir im Prinzip imstande sein, jeden Fall zu beurteilen, indem wir identifizieren, welche der drei Bedingungen erfüllt sind und welche nicht. Aber in der Praxis mag es mehrere Arten der „Präzisierung“ dieser Bedingungen geben: Wir können sie in einem strengeren oder einem weniger strengen Sinne deuten.
In diesem Lichte betrachtet mag die Grenze zwischen freiem Willen und keinem freien Willen sowie jene zwischen frei ausgeführten und nicht frei ausgeführten Handlungen verschwommen sein. Wenn wir den Versuch unternehmen, Akteure und ihre Handlungen danach zu klassifizieren, ob sie „frei“ sind, mag es klare Fälle geben, bei denen wir uns rasch einig sind, aber auch umstrittene Fälle, bei denen unterschiedliche Deutungen der drei Bedingungen für einen freien Willen zu unterschiedlichen Urteilen führen. Eine striktere Deutung führt möglicherweise dazu, dass bei einem bestimmten Grenzfall nicht von freiem Willen die Rede sein kann, während man bei einer weniger strikten Deutung zu dem gegenteiligen Schluss kommen kann. Verschiedene Deutungen könnten zu verschiedenen Zwecken nützlich sein. Wir könnten aber auch einfach darauf verzichten, eine scharfe Grenze zu ziehen, und anerkennen, dass die Willensfreiheit ein graduelles Phänomen ist.
Viele Begriffe weisen vage Grenzfälle auf. Denken Sie beispielsweise an glatzköpfig, groß und reich. Manchmal ist es schwer zu sagen, ob jemand wirklich glatzköpfig, groß oder reich ist; verschiedene Deutungen dieser Begriffe legen unterschiedliche Antworten nahe. Dennoch ändert der Mangel an scharfen Grenzen nichts daran, dass es paradigmatische Anwendungsfälle dieser Begriffe gibt. Lord Voldemort in den Harry Potter-Verfilmungen ist wirklich glatzköpfig; einige Basketballspieler sind wirklich groß; und Bill Gates ist wirklich reich.
Desgleichen möchte ich den bescheidenen Vorschlag machen, dass die von mir eingeführten drei Bedingungen, wenn wir sie so deuten, wie es im Großen und Ganzen auch der gesunde Menschenverstand tut, den freien Willen in seiner paradigmatischen Form charakterisieren und uns eine Richtschnur an die Hand geben, unter welchen Bedingungen eine Handlung als frei ausgeführt gelten