Warum der freie Wille existiert. Christian List

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über die massiven Einschränkungen, denen sie sich in ihrem sozialen, politischen und ökonomischen Umfeld ausgesetzt sehen, und die begrenzten Chancen, die sie haben.23

      Wie Freiheit im sozialen Sinne genau definiert werden sollte, ist umstritten, und die Vertreter unterschiedlicher politischer Standpunkte liefern sich heftige Debatten über diese Frage. Aber nur wenige politische Denker würden bestreiten, dass soziale Freiheit etwas Wertvolles ist.24 Manche glauben, dass soziale Freiheit bloß die Abwesenheit von äußeren Einschränkungen erfordere, während andere der Meinung sind, dass dafür auch substantielle Chancen erforderlich seien. Marktliberale, für die die freie Marktwirtschaft im Zentrum steht, betrachten ungehinderte Markttransaktionen als entscheidend für die soziale Freiheit. Für sozial orientierte Liberale hingegen, denen es um den Wohlfahrtsstaat geht, ist der Zugang zu Ressourcen ebenfalls wichtig.25

      Das alles sind wichtige Fragen, aber sie sind nicht Gegenstand dieses Buches. Die philosophische Frage, ob es ein genuin menschliches Vermögen des freien Willens gibt, stellt sich unabhängig von den sozialen Bedingungen, unter denen Menschen leben. Sie betrifft die Fähigkeiten, die wir als Menschen und nicht als Angehörige einer bestimmten Gesellschaft haben. Betrachten Sie folgende Analogie. Die Frage, wie die menschliche Sprachfähigkeit zu erklären ist, stellt sich unabhängig von den Einzelheiten einer bestimmten, von Menschen gesprochenen Sprache. Wenn der freie Wille zu den menschlichen Fähigkeiten gehört, dann ist es ebenso wie bei der Sprache vernünftig zu glauben, dass die Menschen diese Fähigkeit unabhängig davon haben, wie ihr soziales Umfeld im Einzelnen beschaffen ist. Ja, wir dürfen sogar annehmen, dass auch die Menschen der Urzeit über diese Fähigkeit verfügten, lange bevor die neuzeitlichen Fragen zur sozialen, politischen und ökonomischen Freiheit überhaupt aufkamen – und lange bevor die Menschen den Begriff der Freiheit hatten.

      Daraus folgt nicht, dass die Frage der Willensfreiheit für die Debatte über soziale Freiheit belanglos ist. Es spricht vieles dafür, dass diese Debatte implizit voraussetzt, dass es eine menschliche Fähigkeit des freien Willens gibt. Ob es überhaupt eine nennenswerte soziale Freiheit geben könnte, wenn Menschen keinen freien Willen hätten, und selbst wenn es sie geben könnte, welche Bedeutung sie hätte, ist alles andere als klar. Überdies könnten wir glauben, dass die Ausübung des freien Willens etwas an sich Wertvolles sei. Daraus ergäbe sich, dass die sozialen Bedingungen, die Menschen mehr Freiraum für die Ausübung dieser Fähigkeit gewähren, unter sonst gleichen Bedingungen denen vorzuziehen sind, die ihnen weniger Freiraum dafür geben. Kurzum, wenn wir einen freien Willen haben und seine Betätigung wertschätzen, könnte dies ein weiterer Grund sein, auch gewisse Formen sozialer, politischer und ökonomischer Freiheit wertzuschätzen.26

      Die drei Bedingungen der Willensfreiheit

      Ich habe die Willensfreiheit als eine dreiteilige Fähigkeit charakterisiert: die Fähigkeit zu intentionalem Handeln, die Fähigkeit, zwischen alternativen Handlungsoptionen zu wählen, und die Fähigkeit, die eigenen Handlungen zu kontrollieren.27 Diese Charakterisierung möchte ich nun präzisieren. Ich behaupte: Dafür, dass jemand oder etwas, sagen wir eine Person oder ein Organismus, einen freien Willen hat, müssen drei Bedingungen erfüllt sein. Ich werde sie „intentionales Handeln“, „alternative Möglichkeiten“ und „kausale Kontrolle“ nennen. Gehen wir sie eine nach der anderen durch.

      Intentionales Handeln: Jeder Besitzer eines freien Willens ist ein intentional Handelnder, dessen Intentionen hinter den fraglichen Handlungen stehen.

      Willensfreiheit ist also ein Merkmal intentionaler Akteure – von Akteuren mit Zielen und Zwecken – und nicht von nichthandelnden Entitäten. Menschen sind paradigmatische Beispiele für intentionale Akteure. Sie erfüllen diese Bedingung par excellence. Ja, sie sind dem Common Sense zufolge beispielhafte Besitzer eines freien Willens. Sofas, Fahrräder, Tomaten und andere unbelebte Gegenstände hingegen erfüllen diese Bedingung nicht. Sie sind keine Akteure wie Sie und ich, und sie kommen als Besitzer eines freien Willens überhaupt nicht infrage. Es ergibt keinen Sinn, solchen nichthandelnden Entitäten intentionales Handeln oder einen freien Willen zuzuschreiben. Wie könnte man davon sprechen, dass etwas einen „freien Willen“ hat, wenn überhaupt keine Rede davon sein kann, dass es einen „Willen“ hat?

      Wie der Theologe und Philosoph Jonathan Edwards in seinem 1754 erschienenen Buch Freedom of Will schrieb:

      „Das Subjekt, welches das Vermögen des Wollens oder der Wahl hat, ist der Mensch oder die Seele. […] Und er, der die Freiheit hat, seinem Willen gemäß zu handeln, ist der Handelnde oder Tätige, der diesen Willen besitzt. […] Frei zu sein, ist die Eigenschaft eines Handelnden, der Fähigkeiten oder Kräfte besitzt, ebenso wie schlau, tapfer, freigebig oder eifrig zu sein. Aber diese Qualitäten sind die Eigenschaften von Menschen oder Personen.“28

      All dies wirft natürlich die Frage auf, was genau ein „Handelnder“ oder „Akteur“ ist und was es heißt, dass etwas die intentionale Handlung eines Handelnden ist und nicht bloß ein physikalisches Ereignis oder Verhalten. Diese Fragen kann ich nicht gleich zu Beginn beantworten, aber ich werde auf sie an verschiedenen Stellen dieses Buches zurückkommen. Die grundlegende Behauptung, dass es ohne intentionales Handeln keinen freien Willen gibt, sollte jedoch auf jeden Fall unstrittig sein.

      Ich wende mich nun der zweiten Bedingung für einen freien Willen zu:

      Alternative Möglichkeiten: Jeder Besitzer eines freien Willens steht, zumindest in relevanten Fällen, vor der Wahl zwischen zwei oder mehr alternativen Handlungen: Jede dieser Alternativen ist eine genuine Möglichkeit für den Handelnden.

      Das ist die berühmte „hätte-anders-handeln-können“-Klausel. Es ist eine vertraute Vorstellung, dass die Wahl, die jemand trifft, nicht frei ist, wenn der Handelnde nicht anders hätte wählen können. Meine Entscheidung heute früh für Kaffee und gegen Tee war zu einem Teil deshalb frei, weil ich anders hätte wählen können. Mich für Tee zu entscheiden, war für mich eine genuine Möglichkeit. Ebenso war meine Berufswahl – in dem glücklichen Umfeld einer wohlhabenden Gesellschaft – zu einem Teil deshalb frei, weil ich einen anderen Berufsweg hätte einschlagen können. Ich hätte etwas anderes werden können als Professor. Gewiss, meine Berufswahl war durch meine Chancen und Fähigkeiten eingeschränkt. Ich hätte kein Künstler oder Leichtathlet werden können, um nur zwei von sehr vielen Beispielen zu nennen. Und ich wäre vermutlich gescheitert, wenn ich Finanzmakler geworden wäre, weil ich für so einen Job nicht die richtige Persönlichkeit und auch nicht die richtigen Fertigkeiten mitgebracht hätte. Davon abgesehen sind die meisten Menschen, wenn auch leider nicht überall, so zumindest in wohlhabenden Gesellschaften, nicht auf eine einzige mögliche Laufbahn für ihr ganzes Leben festgelegt. Gerade weil wir im Prinzip zwischen mehreren Optionen wählen können, haben wir alternative Möglichkeiten.

      Die Möglichkeit, anders zu handeln, springt uns vor allem dann ins Auge, wenn jemand einem anderen ein Unrecht antut. Ein Mörder ist, zu einem Teil, deshalb für seine Handlung verantwortlich, weil er, wie wir zumindest gewöhnlich annehmen, anders hätte handeln können.29 Es war ihm möglich, den Mord zu unterlassen. Ja, er hätte anders handeln sollen. Und wenn es ihm wirklich unmöglich war, anders zu handeln – zum Beispiel aufgrund von psychischem Zwang –, dann wäre er „infolge einer psychischen Erkrankung nicht schuldig“, wie es in manchen Rechtsprechungen heißt. Er wäre dann kein Fall für die Strafjustiz, sondern für die Psychiatrie.

      Es lohnt sich gleichwohl, einen Augenblick innezuhalten und zu überlegen, ob alternative Möglichkeiten für die Willensfreiheit tatsächlich notwendig sind. Denn genau das haben einige Philosophen bestritten. Daniel Dennett zum Beispiel erinnert an die Geschichte von Martin Luther, dem Kirchenreformator.30 Luther provozierte die katholische Kirche, indem er einige ihrer Lehren und Praktiken, wie etwa den Ablasshandel, kritisierte. Als er 1521 zum Reichstag nach Worms geladen und aufgefordert wurde, seine Kritik an der Kirche zu widerrufen, stand Luther zu den von ihm vertretenen Auffassungen und soll gesagt haben: „Hier

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