Warum der freie Wille existiert. Christian List

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Warum der freie Wille existiert - Christian List

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verwenden Begriffe wie Teilchen, Felder und Kräfte und formulieren eine Vielzahl von Gleichungen, die beschreiben, wie sich physikalische Systeme im Laufe der Zeit entwickeln. Wenn wir hingegen chemische und biologische Phänomene verstehen wollen, müssen wir über die Grundlagenphysik hinausgehen. Moleküle, Zellen und Organismen weisen Strukturen und Regularitäten auf, die nur auf einer anderen Beschreibungsebene, unter Verwendung eines anderen Begriffsrepertoires als dem der Grundlagenphysik, erfasst werden können. Selbst eine so einfache Eigenschaft wie Azidität (d.h. der Säuregehalt) kann, wie Wissenschaftstheoretiker betonen, nicht befriedigend beschrieben werden, wenn lediglich die Begriffe der Grundlagenphysik zur Verfügung stehen.5 Es gibt keine leicht beschreibbare Konfiguration von fundamentalen physikalischen Eigenschaften, die genau der chemischen Eigenschaft der Azidität entspräche. Es gibt insbesondere kein „Übersetzungsschema“, mit dem sich die Rede von Azidität vollständig in die Rede von Teilchen, Feldern und Kräften übertragen ließe. Damit wir über Azidität angemessen sprechen können, benötigen wir die Begriffe und Kategorien der Chemie. Dabei haben wir es hier, verglichen mit anderen, komplexeren chemischen und biologischen Phänomenen, noch mit einem einigermaßen elementaren Phänomen zu tun.

      Wer bezweifelt, dass wir über die Grundlagenphysik hinausgehen müssen, um Klarheit über die Welt zu gewinnen, möge versuchen, Phänomene wie Zellteilung, genetische Vererbung und Evolution zu erklären, indem er allein auf Moleküle, Atome und andere Elementarteilchen Bezug nimmt. Jede lebendige Zelle besteht aus Milliarden oder Billionen von Atomen, und ein Organismus besteht aus Milliarden oder Billionen von Zellen.6 Selbst ein Supercomputer hätte Mühe bei der astronomischen Aufgabe, die Vorgänge innerhalb eines einzigen Organismus auf atomarer oder molekularer Ebene zu berechnen. Und selbst wenn diese Schwierigkeit entgegen aller Wahrscheinlichkeit überwunden werden könnte, vielleicht unter massivem Einsatz von verteiltem Rechnen im Internet, so würde doch eine rein mikrophysikalische Beschreibung von Phänomenen wie der Zellteilung, der genetischen Vererbung oder der Evolution daran scheitern, viele der Regularitäten auf makroskopischer Ebene, die uns eigentlich interessieren, überhaupt wahrzunehmen. Ja, eine solche Beschreibung würde uns überhaupt nicht dabei helfen, die betreffenden Phänomene zu verstehen. Es würde nur dazu führen, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.

      Sobald wir uns nun aber dem Menschen und seinem intentionalen Handeln zuwenden, erweisen sich fundamentale physikalische Beschreibungen als ganz und gar inadäquat. In der Sprache der Grundlagenphysik können wir nicht einmal von Tischen, Bäumen und anderen gewöhnlichen Gegenständen sprechen, sondern nur von Teilchen, Feldern oder Kräften. Wenn wir danach streben, Menschen und ihre Handlungen zu verstehen, benötigen wir psychologische Beschreibungen, Beschreibungen also, die sich auf Gedanken, Präferenzen sowie Wünsche, Ziele und Absichten beziehen.

      Ich werde den Ausdruck „tieferstufige Beschreibungen“ verwenden, wenn ich von Beschreibungen auf der fundamentalen physikalischen Ebene oder einer anderen Mikroebene, z. B. derjenigen der Molekularchemie, spreche. Und den Ausdruck „höherstufige Beschreibungen“ gebrauche ich zur Bezeichnung von Beschreibungen auf der makroskopischen Ebene, wie etwa in der Biologie, Psychologie und Soziologie. Jegliches Phänomen, das allein durch höherstufige Beschreibungen richtig erfasst werden kann, werde ich ein „höherstufiges Phänomen“ nennen. Höherstufige Beschreibungen sind also Kennzeichen für höherstufige Phänomene. Höherstufige Phänomene sind allgegenwärtig; sie durchdringen einen Großteil unserer menschlichen Umwelt. Von der DNA bis zum Wetter fällt alles in diese Kategorie, auch das Phänomen des intentionalen Handelns selbst und die damit verbundenen Erscheinungen des Denkens, Glaubens, Wünschens, Beabsichtigens und Wählens. Selbstverständlich sind die Begriffe „tieferstufig“ und „höherstufig“ relativ. Die Neurowissenschaft operiert auf einer tieferen Ebene als die Kognitionspsychologie, aber auf einer höheren als die Grundlagenphysik.7

      Vor diesem Hintergrund wird klar, dass der freie Wille ein ausgesprochen höherstufiges Phänomen ist. Es sollte uns daher nicht überraschen, wenn das Vermögen freier Wahl einer Person nirgendwo auf der physikalischen Ebene zu finden ist, nicht einmal auf neurophysiologischer Ebene. Dass wir die menschliche Freiheit auf dieser Ebene nicht finden können, zeigt nur, dass der freie Wille kein physikalisches oder neurophysiologisches Phänomen ist; es zeigt hingegen nicht, dass er kein reales Phänomen ist.

      Höherstufige Phänomene sind natürlich keine freischwebenden Erscheinungen. Jedes höherstufige Phänomen ist abhängig von dem, was auf der physikalischen Ebene vor sich geht: Es „superveniert“ auf ihr, wie die Philosophen sagen.8 Wenn eine chemische Reaktion abläuft, eine Zellteilung stattfindet oder eine Person eine Handlung vollzieht, handelt es sich dabei letztlich um das Ergebnis eines zugrunde liegenden physikalischen Vorgangs. Ohne diesen Vorgang gäbe es keine chemische Reaktion, keine Zellteilung und keine menschliche Handlung. Das sagt uns die wissenschaftliche Weltsicht. Alle höherstufigen Phänomene sind im Grunde auf das Zusammenwirken von Teilchen, Feldern und Kräften zurückzuführen.

      Obgleich höherstufige Phänomene auf fundamentalen physikalischen Phänomenen supervenieren, sind sie dadurch, und das ist wichtig, nicht weniger real. Die Wirtschaft beispielsweise ist letztlich das Ergebnis zugrunde liegender physikalischer Vorgänge; ohne diese Vorgänge gäbe es überhaupt kein Leben auf diesem Planeten, und ohne Leben gäbe es keine Wirtschaft. Dennoch würden wir niemals denken, dass Phänomene wie der Zins, die Inflation und die Arbeitslosigkeit nicht wirklich existieren. Es wäre zum Beispiel ein Fehler, den kausalen Zusammenhang zwischen Geldpolitik und Inflation zu übersehen, und es wäre absurd zu behaupten, dass es in Wirklichkeit keine Arbeitslosigkeit gebe, nur weil Arbeitslosigkeit ein höherstufiges Phänomen ist, oder zu sagen, sie sei weniger real als die kinetische Energie oder der Elektromagnetismus. Unterm Strich weisen höherstufige Phänomene ihre eigenen Regularitäten auf und fungieren als Ursachen und Wirkungen anderer Phänomene. Würden wir diese Regularitäten nicht anerkennen, so würden wir viele signifikante Aspekte der Welt übersehen.

      Dementsprechend werde ich davon ausgehen, dass ein Phänomen dann als real gelten muss, wenn das Anerkennen seiner Existenz für unsere Erklärungen unentbehrlich ist: Würden wir das fragliche Phänomen nicht anerkennen, so würden wir den infrage stehenden Bereich nicht adäquat erklären. Wir kennen dieses Wirklichkeitskriterium aus den Wissenschaften, besonders den Naturwissenschaften. Es hat seine Wurzeln in einer „naturalistischen ontologischen Einstellung“, wie sie manchmal genannt wird: der Ansicht, dass die wissenschaftliche Methode ein guter Leitfaden zur Beantwortung ontologischer Fragen ist, das heißt zu den Fragen, was es gibt und was es nicht gibt.9 Zudem wäre es ein Fehler, das naturalistische Wirklichkeitskriterium ausschließlich auf den Bereich der Grundlagenphysik anzuwenden. Es ist vielmehr ebenso auf die Bereiche der Spezialwissenschaften anwendbar, von der Biologie und der Geologie bis zu den Human- und Sozialwissenschaften.

      Der Zins, die Inflation und die Arbeitslosigkeit genügen alle diesem Wirklichkeitskriterium, ebenso wie die gewöhnlichen Gegenstände von größerer Ausdehnung und ihre verschiedenen Eigenschaften: Wir haben gute wissenschaftliche Gründe dafür, sie als real existierend anzuerkennen. Ich werde zeigen, dass auch das Phänomen des intentionalen, zielgerichteten Handelns diesen Test besteht. Obschon intentionales Handeln das Resultat physikalischer und biologischer Vorgänge im Gehirn und Körper einer Person ist, können wir seine Realität nicht ernsthaft leugnen. Wie sich eine Person verhält, lässt sich für gewöhnlich am besten verstehen, wenn man ihr Verhalten als Handeln begreift. Die Überzeugungen, Wünsche und Absichten der Menschen veranlassen sie dazu, auf bestimmte Weise zu handeln, und wir wären nicht imstande, diesen Sachverhalt angemessen zu verstehen, wenn wir eine Person als nichts Anderes betrachten würden als eine Ansammlung wechselseitig aufeinander einwirkender Teilchen.

      Warum erscheinen die Menschen beispielsweise morgens an ihrem Arbeitsplatz, es sei denn, sie sind krank, im Urlaub oder hatten einen Unfall? Warum engagieren sich manche Leute politisch? Warum beschäftigen sie sich mit Kultur? Warum brechen manche Menschen das Gesetz, aber seltener dann, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie dabei gefasst werden? Die Antworten auf diese Fragen liegen in den Überzeugungen, Wünschen und Absichten der Menschen sowie in den Praktiken und Anreizen, die ihr Leben bestimmen. Menschen

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