Warum der freie Wille existiert. Christian List

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Warum der freie Wille existiert - Christian List

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Arbeiten von Anthony Kenny, der in den 1970er Jahren den freien Willen mit Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen der physiologischen und der psychologischen Ebene verteidigte, wobei er dafür argumentierte, dass der Determinismus auf physiologischer Ebene den freien Willen auf der psychologischen Ebene nicht ausschließt.14 Dazu gehören auch die Arbeiten von Daniel Dennett, der, vor allem in seinem Buch von 2003, die Ansicht vertrat, die Freiheit, wie das Leben selbst, sei „ein Produkt der Evolution“, auch wenn die zugrunde liegende Physik deterministisch ist.15 Und bereits in den 1960er Jahren hatte A.I. Melden die Behauptung aufgestellt, dass physikalische Beschreibungen das Phänomen freien Handelns nicht adäquat erfassen, obwohl er nicht genau erklärte, wie freies Handeln in eine physikalische Welt passt.16

      Meine These, dass der Fehler in einigen Argumenten gegen den freien Willen in der Vermischung von Ebenen liegt, nämlich der physikalischen Ebene und der Handlungsebene, ist auch ein Echo auf die von Mark Siderit in einem Artikel aus dem Jahre 2008 aufgestellte Behauptung, dass „die Illusion des Inkompatibilismus nur dann entsteht, wenn wir illegitimerweise zwei unterschiedliche Vokabulare miteinander vermischen, eines, das von Personen handelt, und ein anderes, das von den Teilen handelt, auf die Personen reduzierbar sind“. Siderits charakterisiert seinen Ansatz als „paläokompatibilistisch“.17

      In den letzten Jahren haben Philosophen und Philosophinnen wie Mark Balaguer, Carl Hoefer, Jenann Ismael, Robert Kane, Alfred Mele, Eddy Nahmias, Adina Roskies sowie Helen Steward unser Verständnis der Willensfreiheit aus einer wissenschaftlich fundierten Perspektive beträchtlich erweitert, und der von mir vertretene Ansatz weist Überschneidungen mit ihren Ansätzen auf.18 Mit meinem Versuch, libertarische und kompatibilistische Vorstellungen des freien Willens zu verbinden, stehe ich ebenfalls nicht alleine. Zu den anderen, die dies versucht haben, wenn auch auf etwas andere Weise, gehören Kadri Vihvelin, die eine Auffassung des freien Willens vertreten hat, die sie „libertarischen Kompatibilismus“ nennt; Helen Beebee und Alfred Mele, die dafür argumentieren, dass eine bestimmte, von David Hume inspirierte Form des Kompatibilismus dem Libertarismus in mancher Hinsicht ähnlich ist; und Bernard Berofsky, ein weiterer Verteidiger eines Kompatibilismus humescher Prägung, der libertarische Intuitionen ernst nimmt.19 Und schließlich liegt mein Ansatz auch mit den Ansichten einiger nichtreduktionistisch gesinnter Physiker auf einer Linie.20

      Trotz dieser anderen Arbeiten stellte ich jedes Mal, wenn ich einen Vortrag über Willensfreiheit hielt oder jemand meine Artikel kommentierte, fest, dass man meine Ideen für provokativer und innovativer hielt, als ich dies erwartet hätte. Und so kam ich zu dem Schluss, dass es sich lohnen könnte, meine Ideen in der Form eines Buches zu präsentieren. Es ist in einem eher informellen, weniger technischen und verklausulierten Stil gehalten, in der Hoffnung, dass es für einen interessierten Laien anregend und einigermaßen zugänglich ist.

      Kapitel 1

       Der freie Wille

      Was ist Willensfreiheit?

      Willensfreiheit ist zunächst zu verstehen als die Fähigkeit eines Akteurs, seine oder ihre Handlungen zu wählen und zu kontrollieren. Manchmal wird sie auch als „Handlungsfreiheit“ oder „Wahlfreiheit“ bezeichnet, aber ich werde den üblichen Begriff „Willensfreiheit“ verwenden. Der Oxford-Dictionaries-Webseite zufolge ist sie „das Vermögen, ohne den Zwang durch gesetzmäßige Notwendigkeit oder Schicksal zu handeln; die Fähigkeit, nach eigenem Belieben zu handeln“1. Der gesunde Menschenverstand geht davon aus, dass wir als Menschen alle diese Fähigkeit haben. Wenn Sie in ein Café gehen, haben Sie die freie Wahl, eine Art von Getränk (sagen wir Kaffee) statt einer anderen (sagen wir Tee oder Orangensaft) zu bestellen. Ebenso steht es Ihnen frei, wenn Sie heute Abend Zeit dafür haben, das Radio einzuschalten oder dies nicht zu tun. Auch bei einer deutlich wichtigeren Entscheidung, etwa der Wahl des Partners, eines Berufs oder eines Reiseziels, ist zumindest bis zu einem gewissen Grad der freie Wille im Spiel. Bei jedem dieser Beispiele liegt es, zumindest teilweise, in unserer Hand, was wir wählen, und wir hätten anders wählen können. Natürlich unterliegen wir bei unserer Wahl oftmals gewissen Einschränkungen durch die uns zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen, durch unseren sozialen Kontext, unsere Geschichte und unsere Verpflichtungen. Eine andere Wahl zu treffen wäre möglicherweise schwieriger – oder es wäre so schwierig, dass es gar nicht infrage kommt. Denken Sie an jemanden, der in einem autoritär regierten Land lebt und überlegt, ob er das herrschende Regime kritisieren soll, aber aus Furcht vor Vergeltung davor zurückschreckt. Dessen ungeachtet gibt es in vielen Situationen einen gewissen Spielraum für den freien Willen. Selbst die restriktivsten Lebensumstände lassen uns zumindest in trivialen Fragen freie Wahl: ob wir auf unserer linken oder rechten Seite schlafen, ob wir noch ein paar zusätzlich Schritte gehen oder noch ein Glas Wasser trinken wollen. Aber natürlich würden wir es vorziehen, wenn unsere Freiheit weit über diese trivialen Entscheidungen hinausginge.

      Versuchen Sie einmal Folgendes, um ein besseres Gefühl für die Vorstellung von der Willensfreiheit zu bekommen. Führen Sie in ein paar Sekunden eine bestimmte Bewegung aus, sagen wir eine Fingerbewegung oder die eines Beines oder Augenlids. Entscheiden Sie, was für eine Bewegung sie ausführen möchten. Und jetzt tun Sie es. Waren Sie in der Lage, Ihren freien Willen auszuüben? Nun, Folgendes scheint alles der Fall zu sein:

      •Sie hatten die Absicht, die Bewegung auszuführen.

      •Sie hätten eine andere Bewegung wählen können oder gar keine Bewegung.

      •Was Sie taten, unterlag Ihrer Kontrolle.

      So trivial dieses kleine Experiment auch scheinen mag, es veranschaulicht doch, was es im Kern mit dem freien Willen auf sich hat. Wie auch andere Philosophen festgestellt haben, kann die Willensfreiheit als eine dreiteilige Fähigkeit verstanden werden.2 Sie besteht in

      •der Fähigkeit zu intentionalem Handeln;

      •der Fähigkeit, zwischen alternativen Möglichkeiten zu wählen; und

      •der Fähigkeit, die eigenen Handlungen zu kontrollieren.

      Ich werde diese Bedingungen gleich präziser formulieren. Aber eines können wir bereits feststellen. In unserem täglichen Leben lässt sich die mächtige Intuition nicht unterdrücken, dass wir alle über diese Fähigkeit verfügen. Wenn nicht schwere medizinische und psychologische Beeinträchtigungen vorliegen, ist die von mir beschriebene dreiteilige Fähigkeit von zentraler Bedeutung für unseren Status als Handelnde. Wir haben diese Fähigkeit auch dann, wenn ihre Ausübung bisweilen durch unsere Umgebung eingeschränkt ist.

      Psychologische Studien belegen die Robustheit unserer Intuitionen bezüglich der Willensfreiheit. Eine neuere Studie fand heraus, dass bereits vier- bis sechsjährige Kinder Intuitionen haben, die denen von Erwachsenen ähnlich sind. Im Alter von vier Jahren erkennen sie ihre eigene Fähigkeit wie auch die Fähigkeit anderer, in Abwesenheit bestimmter physischer Einschränkungen zwischen alternativen Möglichkeiten zu wählen; das heißt, wenn sie eine bestimmte Handlung wählen, hätten sie auch eine andere wählen können. Im Alter von sechs Jahren erkennen sie sogar die Freiheit einer Person, entgegen den von ihr selbst bekundeten Wünschen zu handeln.3

      Obgleich die Intuitionen zur Willensfreiheit bei Erwachsenen nicht immer stimmig sind4, deutet manches darauf hin, dass unser gewöhnliches Verständnis des freien Willens teilweise auch von anderen Kulturen geteilt wird. In einer Untersuchung mit Teilnehmern aus Kolumbien, Hong Kong, Indien und den Vereinigten Staaten äußerte die Mehrzahl von ihnen Intuitionen, die mehr oder weniger mit dem übereinstimmen, was die Philosophen ein „libertarisches“ Verständnis des freien Willens nennen.5 Der Libertarismus ist die Ansicht, dass Willensfreiheit alternative Handlungsmöglichkeiten erfordert und dass die Welt diese alternativen Möglichkeiten tatsächlich bereitstellt: Wir haben eine echte Wahl. Eine andere Studie ist noch nuancierter. Sie zeigt, dass Kinder im Vorschulalter sowohl in

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