Tempowahn. Winfried Wolf

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Tempowahn - Winfried Wolf

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über die Handarbeit war begleitet von vielfältigem Widerstand; Engels schreibt: »Es vergeht keine Woche, ja, fast kein Tag, wo nicht hier oder dort ein Strike vorkommt – bald wegen Lohnkürzung, bald wegen verweigerter Lohnerhöhung, […] bald wegen neuer Maschinerie.«21 In Deutschland mündet die Einführung der neuen Technik 1844 im Aufstand der Weber, von dem Heinrich Heine berichtete: »Im düsteren Auge keine Träne/ Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:/ Deutschland, wir weben dein Leichentuch,/ Wir weben hinein den dreifachen Fluch –/ Wir weben, wir weben!«22

      Mit dem Einzug der Maschinerie und der Unterwerfung der Arbeitskräfte unter dieselbe wurde das Zeitdiktat objektiv notwendig – und, bedingt durch die Trennung eines wachsenden Teils der jungen Arbeiterklasse vom Land und von einer Subsistenzwirtschaft – möglich. Die Zeitsouveränität, die es zuvor für größere Teile der arbeitenden Bevölkerung gegeben hatte, war weggefegt. Und dies nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Arbeitstag selbst im Besonderen. Dazu Auszüge aus drei zeitgenössischen Berichten.

      (1) Ich war in der Fabrik von Mr. Braid. Dort arbeiteten wir im Sommer, solange wir sehen konnten, und ich könnte nicht sagen, um wie viel Uhr wir aufhörten. Nur der Meister und sein Sohn hatten eine Uhr, wir dagegen kannten die genaue Tageszeit nicht. Einer der Männer besaß eine Uhr. [...] Sie wurde ihm weggenommen und dem Meister in Verwahrung gegeben, weil er den anderen die Uhrzeit gesagt hatte.

      (2) In Wirklichkeit hatten wir keine regelmäßige Arbeitszeit: Meister und Betriebsleiter machten mit uns, was sie wollten. Die Uhren in der Fabrik wurden oft morgens vor- und abends nachgestellt und anstatt Instrumente der Zeitmessung zu sein, wurden sie zum Deckmantel des Betrugs und der Unterdrückung. Obwohl dies unter den Arbeitern bekannt war, wagten sie nicht, etwas zu sagen; jeder scheute sich, eine Uhr zu tragen, denn es war nicht ungewöhnlich, dass einer entlassen wurde, der sich anmaßte, zu viel von Uhren zu verstehen.

      Jetzt ist es soweit: Die Arbeitszeit wird zum Maß aller Dinge. Und dabei nicht die individuell verausgabte Arbeitszeit, sondern diejenige, die im Durchschnitt der gesellschaftlichen Arbeit für die Herstellung eines spezifischen Produktes verausgabt wird. Dabei spielt wiederum diejenige Fertigung die entscheidende Rolle, in der die modernste Technik eingesetzt wird. Diese wird zum Schrittmacher und Taktgeber. Dem Grundgesetz der arbeitsteiligen kapitalistischen Produktion entspricht zugleich die Entindividualisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch der Wert des Menschen bemisst sich, so Karl Marx, nunmehr nach der Arbeitszeit, die er aufzubringen imstande ist:

      12 Zitiert nach: Edward P. Thomson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, a. a. O., S. 58.

      13 Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1987, S. 266.

      14 MEW 25, Seite 907f.

      15 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts – Eine Einführung in die Nationalökonomie, Berlin, 7. Auflage 1927, S. 14.

      16 Ebenda.

      17 Edward P. Thompson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, a. a. O., S. 45.

      18 Werner Sombart, a. a. O., S. 33. Dort heißt es: »Damals [im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts«; W. W.] lebten [im Landkreis Solingen; W. W.] von 9718 Familien von der Landwirtschaft allein 3055 [Familien], von Handel, Krämerei, Wirtschaft, Handwerk im einzelnen 1763 [Familien], von Tagelohn 1599, davon in Verbindung mit Ackerbau 933 (also beinahe zwei Drittel!), von mehreren solcher Gewerbe ohne Landbau 347, von solcher Verbindung mit Landbau 2167.« (Die Addition ergibt nicht exakt die angegebene Gesamtzahl der Familien; es dürfte entweder Überschneidungen geben, wenn die 933 Familien, die »vom Tagelohn« leben, die jedoch »in Verbindung mit Ackerbau« aufgeführt werden, als Teil der Gesamtzahl gemeint sind, oder es fehlt eine kleinere Gruppe). Klar ist jedoch, dass selbst in Solingen in den 1830er-Jahren, also in einem Kreis mit relativ entwickelter, wenn auch junger Industrie, weniger als 30 Prozent keine Verbindung zur Landwirtschaft aufwiesen.

      19 Edward P. Thomson, a. a. O., S. 46.

      20 Friedrich Engels, Lage der arbeitenden Klasse in England, erstmals erschienen 1845, MEW, 2, S. 242.

      21 Ebenda, S. 441.

      22 Heinrich Heine, Die schlesischen Weber, Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, München 1997, Band 4, S. 455.

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