Tempowahn. Winfried Wolf
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Mit dem Einzug der Maschinerie und der Unterwerfung der Arbeitskräfte unter dieselbe wurde das Zeitdiktat objektiv notwendig – und, bedingt durch die Trennung eines wachsenden Teils der jungen Arbeiterklasse vom Land und von einer Subsistenzwirtschaft – möglich. Die Zeitsouveränität, die es zuvor für größere Teile der arbeitenden Bevölkerung gegeben hatte, war weggefegt. Und dies nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Arbeitstag selbst im Besonderen. Dazu Auszüge aus drei zeitgenössischen Berichten.
(1) Ich war in der Fabrik von Mr. Braid. Dort arbeiteten wir im Sommer, solange wir sehen konnten, und ich könnte nicht sagen, um wie viel Uhr wir aufhörten. Nur der Meister und sein Sohn hatten eine Uhr, wir dagegen kannten die genaue Tageszeit nicht. Einer der Männer besaß eine Uhr. [...] Sie wurde ihm weggenommen und dem Meister in Verwahrung gegeben, weil er den anderen die Uhrzeit gesagt hatte.
(2) In Wirklichkeit hatten wir keine regelmäßige Arbeitszeit: Meister und Betriebsleiter machten mit uns, was sie wollten. Die Uhren in der Fabrik wurden oft morgens vor- und abends nachgestellt und anstatt Instrumente der Zeitmessung zu sein, wurden sie zum Deckmantel des Betrugs und der Unterdrückung. Obwohl dies unter den Arbeitern bekannt war, wagten sie nicht, etwas zu sagen; jeder scheute sich, eine Uhr zu tragen, denn es war nicht ungewöhnlich, dass einer entlassen wurde, der sich anmaßte, zu viel von Uhren zu verstehen.
(3) Jeder Fabrikant möchte so schnell wie möglich ein feiner Herr werden. Daher nehmen sie uns weg, was sie können. So läutet die Glocke zum Weggehen ½ Minute zu spät, aber zwei Minuten zu früh müssen die Arbeiter wieder da sein. Gewöhnlich waren die Uhren so eingerichtet, dass der Minutenzeiger, wenn er den Schwerpunkt überschritt, gleich 3 Minuten fiel und ihnen statt 30 Minuten nur 27 Minuten ließ.23
Jetzt ist es soweit: Die Arbeitszeit wird zum Maß aller Dinge. Und dabei nicht die individuell verausgabte Arbeitszeit, sondern diejenige, die im Durchschnitt der gesellschaftlichen Arbeit für die Herstellung eines spezifischen Produktes verausgabt wird. Dabei spielt wiederum diejenige Fertigung die entscheidende Rolle, in der die modernste Technik eingesetzt wird. Diese wird zum Schrittmacher und Taktgeber. Dem Grundgesetz der arbeitsteiligen kapitalistischen Produktion entspricht zugleich die Entindividualisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch der Wert des Menschen bemisst sich, so Karl Marx, nunmehr nach der Arbeitszeit, die er aufzubringen imstande ist:
Wird das Quantum der Arbeit an sich, ohne Rücksicht auf die Qualität, als Wertmesser genommen, so setzt dies voraus, daß die einfache Arbeit der Angelpunkt der Industrie geworden ist. Sie setzt voraus, daß die Arbeiten durch die Unterordnung des Menschen unter die Maschine oder die äußerste Arbeitsteilung gleichgemacht sind, daß die Menschen gegenüber der Arbeit verschwinden, daß das Pendel der Uhr der genaue Messer für das Verhältnis der Leistungen zweier Arbeiter geworden, wie er es für die Schnelligkeit zweier Lokomotiven ist. So muß es nicht mehr heißen, daß eine Arbeitsstunde eines Menschen gleichkommt der Stunde eines andern Menschen, sondern daß vielmehr ein Mensch während einer Stunde soviel wert ist wie ein anderer Mensch während einer Stunde. Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles. Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag; aber diese Gleichmachung der Arbeit ist […] ein Ergebnis der modernen Industrie. In der mit Maschinen arbeitenden Fabrik unterscheidet sich die Arbeit des einen Arbeiters fast in nichts mehr von der Arbeit eines anderen Arbeiters. Die Arbeiter können sich voneinander nur unterscheiden durch das Quantum von Zeit, welches sie bei der Arbeit aufwenden.24
Und welche Auswirkungen auf das Verhältnis Mensch und Uhr hat eine Entschleunigung, wie wir sie 2020 mit den vielfachen Lockdowns und der enormen Steigerung von Homeoffice, was ja auch bedeutet, dass »das Pendel der Uhr« nicht mehr »der genaue Messer« für das Arbeitsverhältnis ist, erlebten? Unter der Überschrift »Uhrenhersteller drehen am Rad« berichtete dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass die Schweizer Uhrenproduktion im Jahr 2020 um dramatische 20 Prozent einbrach; die Exporte gingen gar um 22 Prozent zurück. Beim Branchenprimus Swatch – zu dem die Edelmarken Omega, Breguet, Blancpain, Longines, Glashütte Original und Tissot gehören – ist der Umsatz sogar um 32 Prozent eingebrochen. Er reduzierte sich damit dreimal stärker als das Bruttoinlandsprodukt, das um rund 10 Prozent rückläufig war. Ein Swatch-Firmensprecher betonte jedoch, man blicke aus zwei Gründen zuversichtlich in die Zukunft: Erstens, weil auch für Europa und für die Schweiz 2021 ein Wirtschaftswachstum erwartet werde. Und zweitens, weil sich der wichtigste Exportmarkt, China, bereits seit geraumer Zeit wieder in einem neuen Boom befinde. Macht die Wirtschaft auf Geschwindigkeit, sind Uhren wieder verstärkt gefragt; dies trifft auch auf solche Chronometer zu, die eher der Wertanlage und dem individuellen Prestige denn der Zeitmessung dienen.25
12 Zitiert nach: Edward P. Thomson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, a. a. O., S. 58.
13 Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1987, S. 266.
14 MEW 25, Seite 907f.
15 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts – Eine Einführung in die Nationalökonomie, Berlin, 7. Auflage 1927, S. 14.
16 Ebenda.
17 Edward P. Thompson, Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, a. a. O., S. 45.
18 Werner Sombart, a. a. O., S. 33. Dort heißt es: »Damals [im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts«; W. W.] lebten [im Landkreis Solingen; W. W.] von 9718 Familien von der Landwirtschaft allein 3055 [Familien], von Handel, Krämerei, Wirtschaft, Handwerk im einzelnen 1763 [Familien], von Tagelohn 1599, davon in Verbindung mit Ackerbau 933 (also beinahe zwei Drittel!), von mehreren solcher Gewerbe ohne Landbau 347, von solcher Verbindung mit Landbau 2167.« (Die Addition ergibt nicht exakt die angegebene Gesamtzahl der Familien; es dürfte entweder Überschneidungen geben, wenn die 933 Familien, die »vom Tagelohn« leben, die jedoch »in Verbindung mit Ackerbau« aufgeführt werden, als Teil der Gesamtzahl gemeint sind, oder es fehlt eine kleinere Gruppe). Klar ist jedoch, dass selbst in Solingen in den 1830er-Jahren, also in einem Kreis mit relativ entwickelter, wenn auch junger Industrie, weniger als 30 Prozent keine Verbindung zur Landwirtschaft aufwiesen.
19 Edward P. Thomson, a. a. O., S. 46.
20 Friedrich Engels, Lage der arbeitenden Klasse in England, erstmals erschienen 1845, MEW, 2, S. 242.
21 Ebenda, S. 441.
22 Heinrich Heine, Die schlesischen Weber, Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, München 1997, Band 4, S. 455.