Weltkrise und Ignoranz. Robert Kurz

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Weltkrise und Ignoranz - Robert Kurz

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erscheint, verfällt der politische Planungsanspruch gegenüber den ökonomischen Kategorien als subjektive Hybris der Kritik. Die demokratische Ethik soll sich nun nicht mehr auf dem Umweg über das »Primat« politischer Planungsansprüche verwirklichen, sondern als »Wirtschaftsethik« direkt in den Marktkategorien selbst. Die Politik könne nur noch bescheiden den wirtschaftsethischen Imperativ der demokratischen Marktfreiheit durch Rahmenbedingungen unterstützen; und auch die defensiv und an sich selbst irre gewordene linke Kritik vertritt den Anspruch der Regulation nur noch kleinlaut in homöopathischer Verdünnung. Damit ist das Denken über den Zusammenhang von Ethik, Ökonomie und Politik wieder dort angelangt, wo es in der Moderne seinen Anfang genommen hatte: bei Adam Smith und seiner Feier der »invisible hand«. Die Preisgabe des politisch-planungsökonomischen Subjektanspruchs gegenüber den ökonomischen Kategorien paßt gut in eine Zeit, die sich philosophisch den Subjekt­anspruch als gesamtgesellschaftlichen überhaupt schon seit längerem abgeschminkt hat.

      REALISTEN UND FUNDAMENTALISTEN

      Auf dem Weg zurück ins 17. Jahrhundert: Die ideologischen Selbsttäuschungen des Westens

      In seinem Selbstverständnis ist der Westen die »freie« Welt, die demokratische Welt, die vernünftige Welt, kurz: die beste aller möglichen Welten. Diese Welt sei pragmatisch und offen, ohne utopischen und totalitären Anspruch. Jeder soll »nach seiner Fasson selig werden«, wie es die Toleranz der europäischen Aufklärung versprochen hat. Und die Repräsentanten dieser Welt sagen, daß sie Realisten sind. Sie behaupten, daß ihre Institutionen, ihr Denken und Handeln sich in Übereinstimmung mit den »Naturgesetzen« der Gesellschaft befinden, mit der »Realität«, wie sie nun einmal ist. Der Sozialismus, so hören wir, sei deswegen untergegangen, weil er »unrealistisch« war. Zusammen mit dem Sozialismus soll jede Utopie einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft für immer begraben werden. Und die ehemaligen Kritiker des westlichen »way of life« drängeln sich an der Kasse des »Realismus«, um noch rechtzeitig ihr Eintrittsbillett in die globale Marktwirtschaft zu lösen.

      Diese Idylle der Toleranz und der globalen marktwirtschaftlichen Demokratie hat jedoch einen neuen Feind herausgefordert. Zwar ist der Sozialismus tot, aber dafür ist der religiöse Fundamentalismus in die Arena getreten. Der Fundamentalismus ist häßlich, viel häßlicher, als es der Sozialismus jemals sein konnte. Und in den Augen der westlichen Ideologen sieht er ziemlich arabisch aus. Das Pentagon hat in den letzten Jahren damit begonnen, den islamischen Fundamentalismus als historischen Ersatzfeind zu konstruieren. Als strategisches Kampfgebiet gilt jetzt der »moslemische Krisenbogen« von Pakistan bis Mauretanien. Wie in den Zeiten des kalten Krieges gegen den Sozialismus werden nun in der neuen Konstellation alle politischen Kräfte unterstützt, die sich für den Westen und gegen den Fundamentalismus erklären, auch wenn es sich dabei um noch so korrupte und grausame Regimes handelt. Aber die neue strategische Rechnung, mit der die westlichen Spezialisten für Feindbilder ihre weitere Existenz rechtfertigen wollen, geht nicht auf. Der Fundamentalismus ist kein rationaler, politisch definierbarer und in seinem Handeln kalkulierbarer Gegner mehr, wie der Sozialismus es war. Er hat auch kein eindeutiges Zentrum in der Welt, und vor allem beschränkt er sich keineswegs auf den Islam. In vielen nicht-mos­lemischen Regionen Afrikas und in ganz Lateinamerika sind fundamentalistische christliche Sekten in den letzten Jahren zunehmend an die Stelle der sozialistischen Bewegungen getreten.

      Und derselbe gesellschaftliche Wahn des religiösen Fundamentalismus blüht auch in den westlichen Zentren des Weltmarkts selber. Für die USA war es ein Schock, als sich herausstellte, daß nicht ausländische islamische Terroristen es waren, die den verheerenden Bombenanschlag von Oklahoma City verübt hatten, sondern weiße US-Bürger mit der Ideologie christlicher »Gotteskrieger«. Schon seit Jahren wird »Gottes eigenes Land« von radikalen evangelischen Sekten überschwemmt, die übrigens auch die »Evangelisierung« Lateinamerikas steuern. In Deutschland sind für viele Jugendliche obskure religiöse Gruppen zum Ersatz für die Politik geworden; es gibt eine erregte öffentliche Debatte über den Einfluß von clandestinen Sekten wie der »Scientology«-Kirche, die Wirtschaft und Gesellschaft unterwandern. Und wer hätte gedacht, daß in einem Land wie Japan, das als Musterschüler des marktwirtschaftlichen Erfolgs gilt, eine radikale Weltuntergangsbewegung wie Aum Shinrikyo mit ihrem Führer Shoko Asahara so viele Menschen beeinflussen und sogar Anhänger in der japanischen Armee anwerben könnte?

      Die »Verrückten Gottes« sind überall auf dem Vormarsch. Woher kommen sie? Von anderen Planeten bestimmt nicht. Sie kommen direkt aus dem Inneren der marktwirtschaftlichen Welt selber. Der neoliberale »Realismus« kennt in Wahrheit die Menschen sehr schlecht. Niemand kann heute mehr leugnen, daß sich in der liberalen Welt des Marktes die soziale Misere ausbreitet wie ein Flächenbrand. Nicht nur in Brasilien, sondern in der ganzen Welt zeigt sich die westliche Freiheit und Toleranz zynisch als eine »Demokratie der Apartheid«, wie sie Jurandir Freire Costa (Universität von Rio) treffend genannt hat. Gleichzeitig zerfallen die sozialen Bindungen nicht nur in den Slums, sondern in allen Klassen der Gesellschaft. Sowohl der reale Prozeß des Marktes als auch die neoliberale Ideologie tendieren dazu, alle menschlichen Beziehungen in die Ökonomie aufzulösen. 1992 erhielt der US-Ökonom Gary S. Becker den Nobelpreis für das Theorem, daß auch außerhalb des Marktes das gesamte menschliche Verhalten nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten ausgerichtet sei und mathematisch dargestellt werden könne, sogar in der Liebe.

      Die »Realisten« haben auf die soziale Misere ebensowenig eine Antwort wie auf die Misere der menschlichen Beziehungen und der Gefühle in einer ökonomisch durch­rationalisierten Welt; sie zucken nur mit den Schultern und gehen zur marktwirtschaftlichen Tagesordnung über. Aber die Misere kann nicht stumm bleiben, sie muß eine Sprache finden. Und weil die rationale Sprache des Sozialismus tot ist, kehrt in der zerrütteten Gesellschaft die irrationale Sprache der Religion zurück; aber mit einer verwilderten, bösartig gewordenen Grammatik. Der ökonomische Neoliberalismus ruft »Marktwirtschaft«, und das pseudo-religiöse Echo ruft zurück: »Weltuntergang«. Es zeigt sich jetzt, daß der Sozialismus nicht nur eine Ideologie, sondern auch eine Art moralischer Filter gewesen war, ohne den die moderne Zivilisation gar nicht existieren kann. Ungefiltert erstickt die entfesselte Marktwirtschaft an ihrem eigenen moralischen Schmutz, der nicht mehr institutionell bearbeitet wird.

      Fast 150 Jahre lang, bis in die 70er Jahre unseres Jahrhunderts, hatte jeder Schub der marktwirtschaftlichen Modernisierung gleichzeitig eine reformerische oder revolutionäre sozialistische Aktion der intellektuellen Jugend hervorgerufen. Immer wieder war die Solidarität mit den »Erniedrigten und Beleidigten« ein starker Impuls für Opposition und radikale Gesellschaftskritik gerade unter der »goldenen Jugend«, der »schönsten Jugend« der höheren Klassen in der Gesellschaft gewesen. Nach dem globalen Sieg des Marktes ist dieser Impuls erloschen. Die »golden boys« und »golden girls« der neoliberalen Ära wollen nur noch an der Börse spielen. Die Jugend der Mittelschichten ist narzisstisch demoralisiert und nicht einmal mehr intellektuell. Sie hat vor dem totalen Markt seelisch und geistig kapituliert. Ob in Ägypten und Algerien oder in Brasilien und Indien: die westlich orientierten Jugendlichen träumen davon, als Ingenieure und Ärzte oder als Fußballspieler und Leichtathleten Geld zu verdienen; für die soziale Misere empfinden sie keine Verantwortung mehr.

      Und auch im Westen verfällt die Jugend der Mittelschicht in sozialen Zynismus. Bei manchen Jugendlichen in Deutschland, die teure Autos fahren, ist es chic geworden, einen Button zu tragen mit der Aufschrift: »Eure Armut kotzt mich an«. Die restlichen Intellektuelle ästhe­tisieren das Elend und schlachten es kommerziell aus; die Qualen der Verhungernden werden für Werbespots instrumentalisiert. Die seelische Orientierung an der Logik des Marktes hat sogar einen »Kult des Bösen« hervorgebracht. In seinem Buch über die »Renaissance des Bösen« sagt der deutsche Soziologe Alexander Schuller: »Nicht mehr der Fortschritt und die Vernunft okkupieren unseren Alltag und unsere Phantasie, sondern das Böse. Es gibt seit dem Fall des Sozialismus eine Vermehrung an empirisch meßbarer Grausamkeit, es gibt überall unverständliche Bosheit.« Wenn aber die Jugend der Mittelschicht moralisch verwahrlost, dann können auch die Kinder der Armen ihre Misere nicht mehr rational und moralisch anklagen. Bei einer Umfrage in Moskau unter 14-Jährigen nach dem »Traumberuf«

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