Weltkrise und Ignoranz. Robert Kurz

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Weltkrise und Ignoranz - Robert Kurz

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monarchische, sondern jeder Staatsabsolutismus (auch der spätere sozialistische und faschistische) will zwar einerseits die ökonomische Betätigung der Individuen einer umfassenden staatlichen Kontrolle unterwerfen; andererseits erhebt er damit aber auch den Anspruch, daß die menschliche Subjektivität, der mensch­liche Wille (in Gestalt des Monarchen, der Regierung, des »Führers« oder des Zentralkomitees) gewissermaßen »souverän« gegenüber dem System von Markt und Geld sein soll. Umgekehrt vertritt der Liberalismus zwar einerseits die ökonomische »Eigeninitiative« des kapitalistischen Individuums gegenüber dem Staat; gerade dadurch aber wird andererseits der Anspruch einer Souveränität des menschlichen Willens gegenüber dem System von Markt und Geld restlos aufgegeben. Dieses System verselbständigt sich also, es wird zum blinden Gesetz des Handelns und der Mensch zum Spielball »ökonomischer Strukturen« und ihrer ziellosen Dynamik.

      Schon Adam Smith, der Begründer der modernen ökonomischen Theorie auf liberaler Grundlage, verherrlichte das System der totalen Marktwirtschaft als eine Art »gött­liche Maschine«, gesteuert durch den blinden »selbst­­regulativen« Mechanismus der Preise. Analog zum mechanistischen physikalischen Weltbild von Isaac Newton, der die Natur als eine einzige große Weltmaschine betrachtet hatte, verstand Smith die Ökonomie als automatische Weltmaschine der Gesellschaft, deren Räderwerk sich die Menschen unterwerfen müßten. In der Physik ist das mechanistische Weltbild inzwischen schon lange überwunden, in der Ökonomie aber steht die Menschheit immer noch (und heute mehr denn je) auf dem mechanistischen Standpunkt des 18. Jahrhunderts, der sich in den Formen der gesellschaftlichen Reproduktion »objektiviert« hat. Der Liberalismus ist auf diese Weise durch einen ungeheuren Widerspruch gekennzeichnet: Die gesellschaftliche »Freiheit« des Individuums ist immer identisch mit der bedingungslosen gemeinsamen Kapitulation aller Individuen vor einer blinden, nicht verhandelbaren Gesellschaftsmaschine, dem säkularisierten Baal des Kapitals.

      Man kann es auch so sagen: Durch seine maßlosen Ansprüche an die Gesellschaft hat der Absolutismus das subjektlose Monstrum eines verselbständigten ökonomischen Automatismus hervorgebracht, das er selbst nicht mehr beherrschen konnte und das sich schon bald seiner »Souveränität« entzog. Der Liberalismus, der vordergründig die »Freiheit« des Individuums einklagte, hat in Wirklichkeit nur die Verselbständigung dieser »Maschine« exekutiert. Die Liberalen sind nichts anderes als die Priester eines automatischen Götzen, der dem »Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur« (Marx) einen irrationalen Ablauf nach mechanischen »Gesetzmäßigkeiten« diktiert.

      Der Gegensatz von Liberalismus und Staatsabsolutismus ist auf keiner Seite emanzipatorisch besetzbar; er reflektiert immer nur die gesellschaftlichen Paradoxien des modernen warenproduzierenden Systems: Entweder muss sich die menschliche »Souveränität« gegenüber der Marktmaschine als autoritäre Kontrolle des Staates über die Individuen maskieren, oder die »Freiheit« der Individuen muß sich als totale Selbstauslieferung des menschlichen Willens an den blinden Lauf der Marktmaschine maskieren. Für die Mehrheit der Menschen ist der Gegensatz von Absolutismus und Liberalismus irrelevant: Es läuft für sie auf dasselbe hinaus, ob sie von einer Staatsbürokratie oder von den subjektlosen Mechanismen des Marktes drangsaliert und gedemütigt werden. Diese Erfahrung haben in den letzten Jahren die Menschen in Osteuropa gemacht, die vom Regen der staatssozialistischen Diktatur in die Traufe der sozialen Degradation durch den »freien« Markt kamen.

      Im 18. und frühen 19. Jahrhundert hatte der Liberalismus das Problem, dass er nicht nur den staatsbürokratischen Anspruch des Absolutismus beseitigen mußte, sondern auch die Ansprüche der Volksmassen auf soziale Autonomie. Es wurde bald klar, daß es unmöglich war, die Menschen allein durch Repression, Polizei, Militär, Galgen und Gefängnisse zu zwingen, sich selber zum Material der »Arbeitsmärkte« zu machen und die eigene abstrakte Arbeitskraft den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu unterwerfen. Deshalb begann der Liberalismus, die Repression mit Volks- und Industrie-»Päda­gogik« zu verbinden. Hatten die ersten Liberalen den Begriff der »Selbstverantwortung« nur auf sich selbst als »Macher« eines individuellen Kapitalismus bezogen, so wurde dieser Begriff nun auch auf das »Menschenmate­rial« ausgedehnt. Darin liegt ein ungeheurer Zynismus: Die von jeder Kontrolle über ihre eigenen materiellen und sozialen Lebensbedingungen restlos enteigneten Menschen sollen »selbstverantwortlich« gerade darin sein, dass sie sich freiwillig zum »Arbeitsvieh« der Märkte machen und würdelos nach »Arbeitsplätzen« gieren, selbst unter den miserabelsten Bedingungen.

      Einer der großen Ideengeber für diese liberale »Volks­pädagogik« wurde Jeremy Bentham (1748-1832), der Be­gründer einer »Philosophie der Nützlichkeit«. Das »Stre­ben der Menschen nach Glück« sollte übersetzt werden in den Impuls, alle Äußerungen des Lebens in den Zweck der Kapitalverwertung zu integrieren. Um die Menschen dahin zu bringen, ihr eigenes »Glück« ausgerechnet darin zu sehen, sich in der kapitalistischen Tretmühle »nützlich« machen zu können, erfand Bentham eine besondere Zuchtanstalt, das sogenannte Panoptikon.

      Was ist das Panoptikon? Bentham sagt selber, daß es sich um ein Prinzip handelt, das geeignet sei für Gefängnisse ebenso wie für Fabriken, Büros, Krankenhäuser, Schulen, Kasernen, Erziehungsheime usw. Architektonisch besteht das Panoptikon aus einem kreisrunden Gebäudekomplex, in dessen Zentrum sich die (mit Vorhängen versehene) Loge des »Inspektors« und an dessen Peripherie sich die voneinander abgetrennten Zellen der Gefangenen oder Zöglinge befinden. Viele Gefängnisse und »Arbeitshäuser« des 19. Jahrhunderts wurden nach diesem Muster gebaut. Der raffinierte Zweck der Anordnung ist es, daß die Gefangenen sich permanent beobachtet und kontrolliert fühlen, ohne zu wissen, ob die Loge des »Inspektors« wirklich besetzt ist. Die Insassen sollen sich allmählich »von sich aus« und automatisch so verhalten, als ob sie beobachtet würden, selbst wenn das gar nicht der Fall ist.

      Das Panoptikon, für Bentham ein Modell der »idealen« marktwirtschaftlichen Gesellschaft, war nichts anderes als eine liberale »Selbstverantwortungs-Maschine«, um die Individuen für marktkonformes Verhalten zu konditionieren. Die Mechanismen der Unterwerfung und Selbst­verleugnung sollten zur »inneren Verhaltensspur« des Menschen werden. Diese liberale Erziehungsdiktatur objektivierte sich in architektonischen und organisatorischen Strukturen, in Zeichen und psychischen Mechanismen. Die kapitalistischen Imperative, so schrieb der Philosoph Michel Foucault in seinem Buch »Überwachen und Strafen« (1976) über das Panopticon, erscheinen »in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken, ... in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind«. Bentham feilte ununterbrochen an der Vervollkommnung seines sozialen Apparats der Dressur von Menschen. Er ist der Erfinder der Isolationshaft, der Identitätskarten, der Namensschilder und des Großraumbüros. 1804 schlug er vor, alle Engländer mit einer Nummer zu tätowieren.

      Gleichzeitig war Bentham glühender Demokrat. Vom Dienstboten bis zum Minister sollten alle gleichermaßen mitwirken an der »öffentlichen Selbstkontrolle«, das heißt sich selbst und andere beobachten, um gemeinsam tagtäglich die Uhr der Selbstunterdrückung aufzuziehen. Kant, der größte Philosoph der Aufklärung, hatte gefordert, der Mensch solle »herausgehen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen«. In der Konsequenz von Bentham wird der geheime Sinn dieses liberalen Imperativs deutlich: jeder sein eigener Polizist, Erzieher, Gefängniswärter und Antreiber! Die selbstregulative Weltmaschine des Marktes braucht selbstregulative, »auto­­matisch« sich anpassende Individuen.

      Bentham hat Orwells Alptraum von »1984« um fast 200 Jahre vorweggenommen, aber als reales Projekt. Ironischerweise versteht die liberal-demokratische Welt heute »1984« als Warnung vor dem (staatlichen) Totalitarismus, ohne zu erkennen, daß sie selber längst das Produkt einer totalitären liberalen Gehirnwäsche ist. Heute verhalten wir uns alle »selbstregulativ« als Roboter der marktwirtschaftlichen Selbstverantwortung. Jener ältere Begriff von »Freiheit« dagegen, der auf soziale Autonomie zielte, gilt als vorindustriell und primitiv. Natürlich können und wollen wir nicht zurück zu einer beschränkten agrarischen Lebensweise von Bauern und Handwerkern. Aber mußte der Preis des Fortschritts die soziale Entwürdigung des Menschen zu einem »Pawlowschen Hund« der Marktmaschine

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