Der Islamische Staat. Thomas Flichy De La Neuville
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Zwischen 2004 und 2006 bildeten sich zahlreiche militante sunnitische Gruppierungen, die von den USA, der irakischen Armee und schiitischen Milizen bekämpft wurden. Anfangs setzten sie sich aus ehemaligen Soldaten der Republikanischen Garde und der irakischen Armee und aus ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei zusammen, aber viele radikalisierten sich, verschrieben sich dem Islamismus und nahmen schließlich auch ausländische Dschihadisten in ihre Reihen auf. Darunter sind zu nennen:
– die antischiitische kurdische Armee der Verteidiger der Überlieferung (Dschaysch Ansar as-Sunnah), sie schloss sich dem Netzwerk von Osama bin Laden an;
– die Islamische Armee im Irak (IAI), mit besonders vielen Mitgliedern, aber seit 2007 gegen die vorgenannte Gruppierung gerichtet, der sie die Gefolgschaft verweigerte;
– das Einheitsbekenntnis und Heiliger Krieg (at-Tauhid wal-Jihad), formierte sich in den 1990er Jahren und unterstand Abu Musab az-Zarqawi. Der Erzfeind der Schiiten wurde 2006 bei einem amerikanischen Luftangriff getötet. Nachdem er die Führung über den militärischen Zweig von al-Qaida im Irak übernommen hatte, gründete seine Bewegung 2006 den Islamischen Staat im Irak (ISI), ein virtuelles, terroristisches Emirat unter Führung von Abu Umar al-Baghdadi, einem Iraker, der sich „Emir“ nannte (arab. „Befehlshaber“), wie im Mittelalter die Provinzgouverneure des Islamischen Reiches. Er wurde von Osama bin Laden unterstützt. Baghdadi wurde 2010 getötet. Aus dieser Organisation ging 2013 der Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS) hervor, auf Arabisch al-Daula al-Islamiyya fi-l-Iraq wa-l-Sham oder kurz Da‘ish. 2010 zählte diese Gruppierung nicht mehr als 1.000 Männer und führte ihre Operationen im Schatten von al-Qaida durch, doch dann machte sie sich den syrischen Bürgerkrieg und die Durchlässigkeit der Grenzen zunutze, um sich zu vergrößern. Ab 2007 wurde die religiöse Indoktrinierung in der Bewegung verstärkt und vereinheitlicht, während das amorphe Gebilde von al-Qaida doktrinäre Unterschiede durchaus zuließ. Nach Abu Umar al-Baghdadis Tod wurde Abu Bakr al-Baghdadi zu seinem Nachfolger bestimmt. Er leistete einen Gefolgschaftseid auf Aiman az-Zawahiri, den Stellvertreter von Osama bin Laden seit dessen Tod im Mai 2011. Durch den Anschluss an al-Qaida profitierte Da‘ish von den Ratschlägen, Trainingslagern, Netzwerken und vor allem vom Ansehen der Terrororganisation.
Man zählt noch ein gutes Dutzend weiterer Organisationen, die alle aus Katiba, kleinen autonomen Kampfgruppen, bestehen. Geheimdienst haben allein in Syrien 7.000 davon ausgemacht. Das Ganze ist ein amorphes Gebilde, dessen Teile über vasallenartige Bande mit einem Chef verbunden sind, der eine Art mittelalterlicher Emir ist. Aus diesen sehr flexiblen, wenig hierarchischen Gruppierungen entsteht schließlich das Islamische Kalifat.
Nuri al-Maliki führt den Irak in die Sackgasse
Um dem von al-Qaida geschürten Chaos zu begegnen, suchten die irakische Regierung und das amerikanische Militär auf Betreiben von US-General David H. Petraeus ab 2007 auch den Rückhalt der im Zentrum des Landes beheimateten sunnitischen Stämme. Zu diesem Zweck bildeten sie sogenannte Sahwa-Komitees (as-sahwa bedeutet „Erwachen“). Diese Milizen aus Aushilfs-Sicherheitskräften stellten so etwas wie sunnitische Nationalgarden dar und wurden mit Waffen ausgestattet, um die islamistischen Bewegungen zu bekämpfen. Mehr als 100.000 Stammeskämpfer dienten dem irakischen Staat mit der Aussicht, eines Tages in die Ränge der staatlichen Sicherheitsdienste aufgenommen zu werden.13 Tatsächlich konnte auch dank der Hilfe dieser Milizen und der durch sie vertretenen Stämme über mehrere Jahre hinweg die Zahl der Toten und der Anschläge vermindert werden.
Doch Ministerpräsident Nuri al-Maliki (2006–2014) war zu schwach, um eine Einigung herbeizuführen, und er ließ zu, dass sich das Chaos in einem Land ausbreitete, in dem das Miteinander der Volksgruppen bis 2003 auf Unterdrückung der einen und Begünstigung der anderen beruhte. Der starke Einfluss der USA auf die irakische Regierung untergrub deren Legitimität, eine Politik des Ausgleichs wurde nicht eingeleitet. Ein Beispiel: Die im September 2005 gemeinsam von 10.000 irakischen und amerikanischen Soldaten durchgeführte Offensive gegen Aufständische in Tal Afar zwang an die 300.000 sunnitischen Turkmenen zur Flucht. Die Stadt Tal Afar galt als Hochburg der von al-Qaida gesteuerten irakischen Guerilla. Ziel war die Jagd auf Terroristen, aber es war die gesamte Bevölkerung, die unter den Razzien zu leiden hatte und aus ihren Häusern vertrieben wurde. Dieser amerikanisch-irakische Überfall beeinträchtigte unmittelbar die ohnehin schon geringe Akzeptanz des irakischen Staates unter Besatzungsstatut. Die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten: Die Offensive gegen Tal Afar wurde am 10. September eingeleitet, vier Tage später erschütterte darüber hinaus eine Serie von elf Anschlägen, die gegen Schiiten gerichtet waren, die Hauptstadt Bagdad.
Der Abzug der amerikanischen Truppen wurde von US-Präsident Barack Obama zwar beschleunigt und war Ende 2011 abgeschlossen, aber damit wurde Ministerpräsident al-Maliki, der auch im eigenen Lager umstritten war, allein die Regierung seines zersplitterten Landes überlassen. Sein autoritärer Regierungsstil schürte den Hass der sunnitischen Stämme und ebnete den Weg für ihren Anschluss an jene Gruppierungen, die später Da‘ish gründeten. Al-Maliki ließ die Sahwa-Komitees auflösen und brach damit sein Versprechen auf offizielle Anerkennung ihrer Dienste.14 Immer wieder wurden Sunniten durch schiitische Milizen und Soldaten gedemütigt, ob bei Polizeikontrollen, in Gefängnissen oder auf der Straße; Prügel, Beleidigungen, sogar Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Dörfer wurden bombardiert. Laut UN-Angaben wurden allein 2013 insgesamt 8.000 Menschen getötet. In den Medien beschimpfte der Ministerpräsident die „Aufsässigen“ pauschal als Agenten von al-Qaida. Die dadurch geschürte Entrüstung war ein günstiger Nährboden für die Ausbreitung des religiösen Extremismus unter den Sunniten.
2013 richtete der in Falludscha und Ramadi allgegenwärtige Stamm der Jumaila, der die amerikanischen Soldaten bekämpft hatte, als Gegenkraft zu den Streitkräften al-Malikis eine militärische Kommandoeinheit aus Klanführern und ehemaligen Saddam-Offizieren ein, um den Volkswiderstand zu mobilisieren. Shaikh Hamud al-Jumaili leitete die Operationen: Schutzmaßnahmen und öffentliche Kundgebungen (Demonstrationen, Sit-ins).15 Doch im November 2013 wurde al-Jumaili durch Regierungstruppen gefangengenommen und ermordet. Auf dieselbe Weise wurden noch weitere sunnitische Oberhäupter gefasst und umgebracht, darunter im Januar 2014 auch der Abgeordnete Ahmad al-Alouani.16 Zur selben Zeit eroberten ISIS-Dschihadisten mehrere Viertel von Falludscha; Teile der Bevölkerung flohen aus der Stadt, die Männer bildeten Selbstverteidigungsmilizen und schlossen sich den ISIS-Leuten an, um die „antiterroristische“ Offensive der Regierungstruppen aufzuhalten.17
Diese beschossen, Human Rights Watch zufolge, ein Krankenhaus und Wohnquartiere mit Fässern voller Sprengsätzen. Für viele sunnitische Iraker war al-Maliki eine Marionette im Dienste Teherans, das auf eine iranische Vergeltung für den irakisch-iranischen Krieg von 1980–1988 sann.18 Eine neue Anschlagsserie gegen die Schiiten war die Reaktion, und das Ansehen von al-Qaida wuchs weiter, ganz ohne dass das im Untergrund operierende Netzwerk seine Präsenz vor Ort ausbaute.
Bei der Bildung der irakischen Regierung im Jahr 2003 erfolgte die Vergabe der wichtigsten Ämter nach konfessionellen und ethnischen Kriterien, nicht nach individuellem Verdienst um das Gemeinwohl. Die Hilfe des Westens für den Wiederaufbau des Landes floss hauptsächlich in die Ölförderanlagen, wobei systematisch amerikanische Firmen bevorzugt wurden; die Iraker wurden nicht zurate gezogen.19 Das Ende der US-amerikanischen Präsenz im Irak hat auch das Schicksal eines moribunden Staates besiegelt, in dem ausnahmslos alle Ministerien im eigenen – regionalen oder ethnischen – Interesse tätig waren. Davon zeugen die zahllosen Demonstrationen gegen die Staatsmacht, von denen einige in einem Blutbad endeten, so in Huweidscha im April 2013, als bei Zusammenstößen mehr als 50 Menschen starben.20 Dieses wiederholte Blutvergießen hatte politische Konsequenzen: Zwischen März und April verließen vier Minister sunnitischer Konfession die Koalitionsregierung. Dass es schlecht um den Staat bestellt war, war allenthalben ein