Der Islamische Staat. Thomas Flichy De La Neuville

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Der Islamische Staat - Thomas Flichy De La Neuville

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Planung von Terrorkampagnen und setzte sich zunehmend über die operativen Weisungen von al-Qaida hinweg. Im Juli 2012 startete Da‘ish die Operation „Grenzvernichtung“. Am 21. Juli gelang es, das berüchtigte Bagdader Abu-Ghuraib-Gefängnis zu stürmen und 500 Insassen zu befreien. Im August 2013 startete AQAH eine eigene, ebenso mörderische Kampagne mit dem Namen „Soldatenmähen“, wohl um ihr Zerstörungspotenzial zu betonen.34

      Diese Vorgänge in Syrien und im Irak führten schließlich dazu, dass die schwer greifbare Organisation, die für den 11. September verantwortlich ist, alle Verbindungen zu Da‘ish abbrach. Al-Baghdadi und seine Gruppierung agierten ihr zu eigenständig. Und mit der einseitigen Proklamierung des Islamischen Kalifats im Irak wurde diese Eigenständigkeit zu offensichtlich.

       „Dass ISIS gekommen ist, hat mehr mit lokalen Interessen als mit einem Glaubenskrieg zu tun.“

      Ein Turkmene aus Taze35

      Unter den irakischen Stämmen, deren Gebiete unter der Kontrolle des IS stehen, herrschen große Uneinigkeit und genereller politischer Opportunismus. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die syrisch-irakische Grenze durch das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 zwar geschlossen, trotzdem verkehrten die Bewohner der Grenzregionen des Libanon, Syriens und Nordiraks weiterhin miteinander, aber nicht nur wegen ihr gemeinsamen Erdöl-Interessen (die IPC, die Öl-Pipeline von Kirkuk nach Tripolis, führt durch alle drei Länder), sondern vor allem aufgrund ihrer Verbundenheit als Araber und Sunniten. In Syrien schlossen sich viele Baath-Offiziere der Freien Syrischen Armee an und sahen sich dann im Kampf gegen das schiitisch-alawitische Assad-Regime zu einer Zusammenarbeit mit islamistischen Gruppierungen gezwungen, genauso wie ihre irakischen Baath-Kollegen, die sich im Kampf gegen die schiitische Regierung in Bagdad Da‘ish anschlossen. Offenbar arbeiteten die alten Kader der irakischen Baath-Partei mit IS-Leuten zusammen, um die Autonomie des sunnitischen Gebiets zu sichern, und zwar mit der stillschweigenden Zustimmung von Masud Barzani, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Die Einnahme von Mosul im Juni 2014 durch den IS soll die Folge dieser opportunistischen Zusammenarbeit gewesen sein.36 Abu Abdul Rahman al-Bidawi, der derzeitige Leiter der Militäroperationen von Da‘ish, ist ein ehemaliger Saddam-Offizier; auf syrischer Seite sind sowohl der von al-Baghdadi designierte Gouverneur der Provinz Anbar als auch der Gouverneur der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor ehemalige Baath-Offiziere.37

      Das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916

      Diese zwiespältige Haltung ist außer bei den früheren Baath-Eliten auch bei den sunnitischen Stammesführern anzutreffen. Da die Stämme hofften, ihren alten politischen Status und vor allem einen Teil der Erdöleinnahmen zurückzugewinnen, lehnten sie den Föderalismus ab. Allerdings scheiterte der Vorstoß mehrerer sunnitischer Provinzen (Anbar, Salah ad-Din, Diyala, Ninive) im Jahr 2011, Referenden über ihre Autonomie abzuhalten. Der in der Provinz Anbar beheimatete Dulaimi-Stamm unterstützt derzeit die Rebellion. Dieser Stamm zählt drei Millionen Mitglieder und tausend Klans, die seine militärische Vergangenheit verklären, insbesondere seine Teilnahme an den ersten arabischen Eroberungen im 7. Jahrhundert. 25 Prozent sind nomadische Beduinen, die übrigen sind Bauern, die entlang des Euphrat leben und deren Siedlungsgebiet sich über Ramadi bis nach Bagdad erstreckt. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch leistete der Stamm Widerstand gegen das osmanische Kalifat, indem er die Entrichtung von Steuern verweigerte. Im Ersten Weltkrieg unterstützten die Klans zunächst das Osmanische Reich gegen die Briten, wechselten aber 1917 mit Shaikh Ali Sulaiman die Seiten. Nach dem Krieg herrschte unter den Klans Uneinigkeit gegenüber den Briten, später standen sie vereint hinter Saddam Hussein, der sie massenhaft in die Armee berief.38 Im Irakkrieg von 2003 war der Dulaimi-Stamm nach den Bombardierungen von Falludscha und Bagdad, wo viele Dulaimi leben, der Hauptunterstützer des Aufstands gegen die US-amerikanische Besatzungsmacht.

      Geeint ist dieser Stamm heute noch lange nicht, denn es zählen auch schiitische Klans zu den Dulaimi, insbesondere in Nadschaf, Kerbela, Basra, Babil und Bagdad. Seine Unterstützung für den IS ist an Bedingungen geknüpft und ist insbesondere durch die Ablehnung der schiitischen Regierung in Bagdad motiviert.39 Außerdem ist die Erinnerung an die Ermordung des Vaters des heutigen Shaikhs, Ali Hatem Sulaiman, durch al-Qaida im Jahr 2001 noch nicht verblasst. Sollten seine Forderungen durch die neue Regierung erhört werden, könnte der Stamm sein Bündnis mit dem neuen Islamischen Staat beenden. Im Übrigen hat der Shaikh erklärt, dass Da‘ish nur einen Bruchteil der sunnitischen Opposition ausmachen würde und dass „Bagdad erst Zugeständnisse machen muss“, bevor er sich gegen Da‘ish wendet.40

      Der Islamische Staat findet in zwei weiteren großen Stämmen Rückhalt, den Dschubur und den Schammar. Ersterer ist mit sechs Millionen Mitgliedern der größte irakische Stamm. Die Dschubur sind im Norden des Landes beheimatet, zum größten Teil sind sie Sunniten, aber es gibt unter ihnen auch viele Schiiten. Während der amerikanischen Besatzung standen sie in Opposition zu al-Qaida, weil die Terrororganisation zahlreiche Stammesführer ermordete, darunter auch ihr Oberhaupt. Der jetzige Stammesführer Ismail el-Dschuburi ist bekannt für seine Ablehnung der amerikanischen Besatzung und von al-Qaida.41

      Der Stamm der Schammar zählt drei Millionen Menschen, die vor allem rund um Mosul leben. Sie sind Nachkommen des jemenitischen Stammes der Tayy. Unter der Dynastie der Muntheriden, die sich ab dem 17. Jahrhundert bei Mosul niederließ, herrschten die Schammar über den Irak und waren auch das ganze 20. Jahrhundert hindurch sehr einflussreich. Sie waren 1920 eine treibende Kraft in der irakischen Revolution gegen die Briten und unterstützten die Baath-Partei. Doch Saddam Hussein blieb ihnen gegenüber stets misstrauisch, weil sie Kontakt zu Schammar-Klans hielten, die in Saudi-Arabien verblieben waren, zumal das Nachbarland nach 1990 ein Feind Iraks war. Die Schammar teilen sich in einen sunnitischen Zweig im Norden (Schammar al-Dscharba) und einen schiitischen Zweig im Süden (Schammar Toga); Letzterer ließ sich ab dem 19. Jahrhundert bei Suwaira in der Provinz Wasit nieder.42 Nach dem Sturz von Saddam Hussein wurde ihr Oberhaupt Ghazi al-Jawar zum Präsidenten der von den USA eingesetzten Übergangsregierung ernannt (2004/05).43 Doch die mit den Parlamentswahlen ermöglichte Umkehrung der politischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Schiiten trieb die Klans ins gegnerische Lager, sodass sie heute den Islamischen Staat mit zahlreichen Kämpfern unterstützen. Einige lehnen dennoch den IS auch ab, sogar in der Provinz Anbar.44

      Geteilt in sunnitische und schiitische Zweige, zerrissen durch auseinanderklaffende Interessen, legen die irakischen Stämme, die sich heute auf dem Gebiet des Islamischen Staates befinden, ein ausgesprochen opportunistisches Verhalten an den Tag. Sie sehen sich als Kämpfer gegen die Unterdrückung. Die degradierten Offiziere, die entmachteten Baath-Eliten, das Tag für Tag gedemütigte einfache Volk – alle stehen vereint hinter den Stammes-Shaikhs, verbunden in einem arabisch-sunnitischen Nationalismus und in der nostalgischen Sehnsucht nach dem alten Irak. Der Islamische Staat ist für sie nur Mittel zum Zweck, und seine Anhänger lediglich die Hilfstruppen, um die verlorene Macht und Ehre wiederherzustellen. Nur wenn die Stämme eine Kehrtwende vollziehen und sich hinter die Zentralregierung in Bagdad stellen, wird dies den IS mittelfristig schwächen. Dafür muss es allerdings erst zu einer nationalen Versöhnung oder zumindest zu einer politischen Lösung kommen.

      Der überwältigende Erfolg von ISIS im Irak war in erster Linie ein militärischer, erst später kam die politische Ebene hinzu. Bis zum Winter 2014 bestand die Vorgehensweise von Da‘ish im Wesentlichen aus einer Kombination von Überfällen, Entführungen und Anschlägen in Ostsyrien und im Irak. Für einen groß angelegten Feldzug mit Bodengefechten zwischen Armeen reichten die Kapazitäten noch nicht aus, obwohl die Bewegung ab 2008 einen Strategiewechsel vollzog mit dem Ziel, sich dauerhaft auf einem klar umrissenen Territorium einzurichten, was damals ebenso ehrgeizig wie utopisch zu sein schien. Dieses neue Ziel stand in Widerspruch zur dschihadistischen

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