Der Islamische Staat. Thomas Flichy De La Neuville

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Der Islamische Staat - Thomas Flichy De La Neuville

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Ziel umzusetzen, da die Bewegung von den Stämmen aus der sunnitischen Provinz Anbar verjagt worden war.45

      Das Erstarken von ISIS im Jahr 2012/2013

      Das Gebiet des Islamischen Staates Ende 2014

      Im Juli 2012, als Da‘ish die Terrorkampagne „Grenzvernichtung“ startete, wendete sich die Lage.46 Al-Baghdadi legte drei Ziele fest: die Befreiung der Gefangenen, die Eroberung der Landstriche entlang der Hauptverkehrsader im Zentrum des Landes und (in Anspielung auf die persische Dynastie, die von 1501 bis 1736 im Iran herrschte und das Schiitentum zur Staatsreligion erhob) die „Zerschlagung der Safawiden“, womit er die Regierung von Nuri al-Maliki meinte. Am 23. Juli 2012 erschütterte eine Welle blutiger Autobomben-Anschläge zwei Dutzend Ortschaften, bei denen 115 Menschen starben. Am 16. August und am 9. September verloren wieder mehr als hundert Menschen ihr Leben. In allen Fällen waren das Gebiet nördlich von Bagdad und die Grenzregion zu Kurdistan entlang der ethnischen Bruchlinie betroffen. Das Ziel war, die Randzonen des sunnitischen Gebiets zu erobern. Die Provinzen Anbar und Ninive blieben verschont, wohl weil Da‘ish hier bereits Fuß gefasst hatte. Über die beiden an Syrien grenzenden Provinzen sicherte die ISIS-Miliz den Nachschub an Waffen aus Syrien und der Stadt Rakka, die unter ihrer Kontrolle stand. Im September gelang es ihr sogar, sunnitisches Gebiet zu verlassen und mitten im schiitischen Gebiet (im südlichen Teil) drei Anschläge zu verüben. In kürzester Zeit hatten sich die Kapazitäten der Gruppe vervielfacht.

      Am 19. März 2013 bekannte sich ISIS zu einem Anschlag in Bagdad, der hundert Menschenleben unter der schiitischen Bevölkerung forderte. Im Mai leitete die irakische Armee eine großangelegte Operation zur Sicherung der syrisch-jordanischen Grenze ein, deren offenkundiges Ziel es war, die Kontakte zwischen den verschiedenen zu Da‘ish gehörenden Gruppen zu unterbinden. Im Dezember wurde die Provinz Anbar ihrerseits durch eine Reihe von Anschlägen und Geiselnahmen erschüttert, die insbesondere den loyalen Streitkräften galten, die durch Terror zermürbt werden sollten. Von da an richteten sich die ISIS-Aktionen hauptsächlich gegen schiitische Zivilisten im Süden und in Bagdad sowie gegen die Regierungstruppen auf sunnitischem Gebiet im Zentrum des Landes, um diese Region zu destabilisieren und die Invasion vorzubereiten. Am 30. Dezember 2013 fiel Falludscha in die Hände der ISIS-Miliz, die sich mit den revolutionären Islamisten der Anbar-Provinz verbündet und das Einverständnis der Stämme gesichert hatte. Das war die Einnahme der ersten wirklich großen Stadt – Falludscha zählt mehr als 300.000 Einwohner.

      Obwohl die irakische Armee mit Material aus den USA unterstützt wurde (Drohnen, Aufklärungsgerät, Helikopter), waren ihre Soldaten längst nicht so motiviert und kampferprobt wie die zum Äußersten entschlossenen ISIS-Kämpfer.47 Zwar misslang der Vorstoß der Dschihadisten auf Ramadi im Januar 2014, Falludscha aber blieb in ihren Händen. Innerhalb weniger Wochen schlossen sich aufgrund der Erfolge immer mehr Dschihadisten der Gruppierung an, die inzwischen zu regelrechten Militäroffensiven mit schweren Waffen, Pick-ups und sogar Panzern, die sie in Syrien und an irakischen Armeestandorten erbeutet hatte, in der Lage war. Nur über Fluggerät verfügten sie noch nicht. Da‘ish hatte ihre Kapazitäten vervielfacht, ihre Kämpfer konnten nun an mehreren Fronten gleichzeitig angreifen.

      Im Juni 2014 waren Ramadi und Samarra für einige Tage fest in ISIS-Hand und Mosul war unmittelbar bedroht. Vom 6. bis 10. Juni wurde die Großstadt mit 1,5 Millionen Einwohnern sukzessive erobert und mit ihr auch die ganze Provinz Ninive. Die Regierungstruppen räumten offenbar kampflos das Feld, vermutlich auch deswegen, weil die meisten Soldaten Schiiten waren. Die sunnitischen Offiziere hingegen überließen ISIS schlicht die taktische Initiative. Ein schwerer Anschlag mit einem Tanklastwagen gegen das Hauptquartier in Mosul lähmte die Streitkräfte und vereitelte ihre Pläne für einen Gegenangriff. Von Panik ergriffen floh eine halbe Million Zivilisten Richtung Norden in der Hoffnung, in Kurdistan Unterschlupf zu finden.48

      Der Vorstoß der Dschihadisten im sunnitischen Landesteil verlief völlig problemlos, da die Stämme sich ihnen massiv – teils offen, teils stillschweigend – anschlossen.49 Ab Juni fiel eine Stadt nach der anderen in die Hände der ISIS-Kämpfer: die Raffineriestadt Baidschi, Tal Afar, Al-Awja und Tikrit, wo offenbar 1.700 Schiiten hingerichtet wurden. Allerdings leistete Samarra noch Widerstand, außerdem mussten Muatassam und Ischaqi wieder aufgeben werden. Am 13. Juni machten sich die Peschmerga – die Soldaten Kurdistans – die Auflösung der Regierungstruppen zunutze und übernahmen die Kontrolle über Kirkuk. Die Zentralregierung in Bagdad musste Russland und die USA um Hilfe bitten. Letztere ließen es bei Luftschlägen bewenden und schickten Spezialeinheiten zum Schutz der bedrohten amerikanischen Interessen. Freilich setzten die Übergriffe der irakischen Armee der Einheit des Landes mehr zu als die militärischen Niederlagen: Offenbar wurden im Juni 2014 in Hilla (Provinz Babil) hunderte Gefangene getötet. Unterdessen setzte sich der Vormarsch der Dschihadisten weiter fort: Rawa und Rutba fielen, dann Qaim und Rabia, zwei strategisch wichtige Grenzstädte zu Syrien. Damit konnte Da‘ish sich zwischen beiden Ländern frei bewegen. Am 29. Juni 2014 vollzog die ISIS-Bewegung dann ihre symbolische Verwandlung: Das Kalifat wurde ausgerufen, die Organisation und ihr Territorium erhielten den Namen Islamischer Staat. Al-Baghdadi forderte daraufhin seine Gefolgsleute auf, „bis nach Bagdad zu robben“, sich also bis nach Bagdad vorzukämpfen und die Hauptstadt einzunehmen.

      Obwohl der Vormarsch ins Stocken geriet, blieb Da‘ish noch den ganzen Juli über Herr der Lage. Am 8. Juli fiel ein Chemiewaffenlager in die Hände der IS-Miliz. Bagdad war jetzt nur noch 50 Kilometer entfernt. Eine neue Welle von anti-schiitischen Anschlägen erschütterte die Hauptstadt und ihre Vororte. Im Zuge ihres Angriffs auf Jurf al-Sakhr Ende Juli versuchten die Islamisten die Hauptstadt einzukreisen, um sie vom schiitischen Süden und damit von den Nachschubbasen in Kerbela und Basra abzuschneiden. Im August endete der erfolgreiche Vormarsch des IS in Richtung Südirak.

      Am 17. Juni 2014 hatte Ajatollah Ali al-Sistani, der höchste Würdenträger der Schiiten im Irak, dazu aufgerufen, sich den Dschihadisten in den Weg zu stellen, woraufhin sich (laut AFP und IRIB) zahlreiche Freiwillige begeistert den konfessionellen Milizen anschlossen. Teile von Tikrit wurden befreit. An den Außenrändern der sunnitischen Gebiete konnte der IS nicht mehr mit der Unterstützung der Stämme rechnen, im Gegenteil, bei jedem Schritt trafen die Kämpfer auf den Widerstand der Milizen und der irakischen Armee. Die Hauptstadt Bagdad mit ihrer mehrheitlich schiitischen Bevölkerung war nicht zu Fall zu bringen. Der IS musste die Hoffnung auf die weitläufigen Erdölfelder der Hauptstadt, die er so dringend brauchte, um seine Finanzierung langfristig zu sichern, aufgeben.50

      Da es kein Weiterkommen im Süden gab, und das offenbar endgültig, änderte Da‘ish Anfang August die Taktik und ging an der Nordgrenze wieder in die Offensive. Der Kampf richtete sich gegen die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, die zunächst in Zumar und Sindjar geschlagen wurden.51 Dann fielen die Städte Karamlesch und Karakosch mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung. In diesen Landstrichen, die jetzt wie in einem Schraubstock zwischen den sunnitischen Gebieten, die unter der Kontrolle des IS standen, und der Autonomen Region Kurdistan eingeklemmt waren, lebten Teile der christlichen und jesidischen Minderheiten des Landes. Mehr als 30.000 Menschen, hauptsächlich Jesiden, flüchteten aus Kocho und Sindjar in die umliegenden Berge und saßen plötzlich in der Falle, ohne jede Hilfe, ohne Wasser, von Tod und – besonders für die Frauen – Verschleppung bedroht.52 Tausende Familien schleppten sich unter der sengenden Sonne in die von den Peschmerga kontrollierten Gebieten – der glühende Hass auf die „Teufelsanbeter“ drohte in einem Massaker enden. Am 6. August flüchteten mehr als 100.000 Zivilisten, hauptsächlich Christen, aus Karakosch und Umgebung; nur die Alten, die nicht mehr laufen konnten, blieben zurück. Am selben Tag wurde durch eine kurdische Gegenoffensive, die von kurdischen Kämpfern aus der Türkei und Syrien unterstützt wurde, zwar eine Bresche geschlagen, doch der Flüchtlingsstrom nach Kurdistan ebbte nicht ab. Viele waren gezwungen, ihre Autos stehenzulassen

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