Seelenzerrung. Winfried Thamm
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Seelenzerrung
Winfried Thamm
1. Auflage Januar 2019
©2019 OCM GmbH, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund
Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de
ISBN 978-3-942672-68-9
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Inhaltsverzeichnis
5 Wir müssen leider draußen bleiben
6 Wie in Amsterdam, nur ohne Japaner
8 Der alte Mann und das Mädchen
10 Friederike sucht einen Mann
14 Weitere Bücher von Winfried Thamm
Landmarks
1 Cover
Für Ilse,
die in ihrem langen Leben immer wieder aufgestanden ist und sich zurückgekämpft hat, wenn sie niedergestreckt wurde von der Willkür des Lebens.
„Dies ist, glaube ich, die fundamentalste Regel allen Seins: Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders!“
Kurt Tucholsky
„Wir glauben Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.“
Eugène Ionesco
Alles auf Anfang
Hier im Hotel Böll, habe ich ein Zimmer gebucht, im Essener Norden, an meinem alten Schulweg. Eine billige Absteige. Hier soll ich mein neues Leben beginnen. Lächerlich.
Die Straßen sind regennass. Der Wind treibt Müll vor sich her. Die Häuserflucht, ein Schwarz-Weiß-Foto mit roter Ampel.
Zerzauste Erinnerungsfetzen, fossile Gefühle von Kindheit. Wusste nicht, wohin. Also nach Hause. Ist es nicht mehr. Zu lang war das andere Leben:
Frankfurt, da wo die Bücher wohnen, in den Kulturpalästen der großen Verlage. Buchkritiken und Lektoratsarbeit, Lesungen und Interviews, mitten im Leben eben. Dann Francoise, die Lebensliebe, zeigte mir, wie Leben geht, und Lust. Wir: Kopf und Zahl der gleichen Münze. Zwei Schuhe machen ein Paar. Dann kam Hannah, unsre kleine Fee. Glück pur.
An der Rezeption checke ich ein, nehme Schlüssel und Rollkoffer, sollte aufs Zimmer, ein wenig schlafen, kann aber nicht. Wenn ich da jetzt hochgehe … nein. Lasse meinen Koffer an der Rezeption, gebe den Schlüssel zurück und eile hinaus.
Später Nachmittag, Anfang November. Schieferwolken hängen tief. Der Wind will mir an den Hut, drücke ihn fest. Hände tief in den Manteltaschen gehe ich zügig die Hauptstraße lang. Biege in die Erste rechts in die Albstraße ein. Die Straße meiner Kindheit. Drei Kopftuchfrauen in schwarzen, langen Mänteln hasten vorbei, mit weißen Plastiktüten beladen. Kinder an Rockzipfeln. Der Regen setzt wieder ein. Ich stehe vor dem Haus Nummer 3, meinem alten Zuhause. Plötzlich rieche ich das Gusseisen der Werkzeugfabrik, die es nicht mehr gibt. Jäh fliegt mich das Gefühl von Kindheitsglück an. Ich schaue nach oben zum zweiten Stock rechts, unsere Wohnung. Links hat Tante Mia gewohnt. Hat mir erste Stücke auf dem Klavier beigebracht: „Der fröhliche Landmann“. Mein Gesicht ist nass von Regentränen. Spüre Scham.
Wenn ich es damals, in Frankfurt, wenigstens so stark gespürt hätte, dieses kolossale Glück. Aber es strahlt erst hell, wenn man im Dunkeln steht. Diese Unbeschwertheit, das leichte Leben, lange Abende mit Freunden bei Rotwein und Lammkeule, Kaffee-Orgien mit Kollegen im Büro, bei Erfolgen gab’s Prosecco. Und immer Hannah und Francoise, rund um die Uhr. Alles verschmolz zu einem großen Klumpen Gold.
Den Hut tief ins Gesicht gezogen, gehe ich zurück zur Hauptstraße. Weiß nicht, wohin. Halte ein Taxi an.
„Zur Rüttenscheider Straße“, sage ich.
„Ein bisschen früh für die Rü“, sagt der Fahrer und lacht. Lache auch, kurz und schmerzlos, will ihm nicht die Laune nehmen. Es reicht, wenn für mich die Welt untergeht. Die Rü, Kneipenmeile in Essen. Erkenne sie kaum wieder. Coole Lounge-Bars, hippe Restaurants. Glitzerwelt auch bei Regen. Ich gehe