Seelenzerrung. Winfried Thamm
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„Was?“ Mehr hatte er nicht sagen können. Der Schmerz hatte ihm den Atem genommen und gleichzeitig die Ahnung einer Erlösung geschenkt.
Er hatte sie angestarrt, ohne zu wissen wie lang.
„Paps, ist das denn so schlimm?“ Der Zauber ihres Lächelns hatte ihn ganz eingenommen.
„Nein, Schatz, komm mal her!“ Und sie war ihm um den Hals gefallen, er hatte sie umarmt, sie wieder gespürt, gestreichelt, auf den Hals geküsst, sie hatte aufgeschaut, ihr Gesicht ganz nah bei seinem, ihn auf den Mund geküsst, „armer Paps“ hineingelächelt. Er hatte ihren Kuss erwidert, auf den ach so blühenden Mund, und nicht mehr aufgehört, war immer fordernder geworden, hatte seine Hände wandern lassen, immer gieriger, bis sie ihn sanft, aber bestimmt zurückdrückte, „Lass gut sein, Paps“, murmelnd. Er starrte sie an, sie schlug die Augen nieder.
„Entschuldige, ich wollte nicht …“, hatte er gestammelt, mit abgewandtem Kopf. Und sie war grußlos verschwunden.
Die ersten Tage danach hatten sie kaum miteinander sprechen und sich nicht anschauen können. Dann einmal doch, nach Wochen, hatte sie ihn gefragt, ob er böse auf sie sei. Nein, aber sie auf ihn, hatte er erstaunt gefragt.
„Ach was, Paps, ich lieb dich doch“, hatte sie gesagt mit ihrem koketten Grübchenlächeln. Die Erleichterung ließ ihn durchatmen.
„So lasst uns das Glas erheben auf dich, den großen Oberstaatsanwalt, den verständigen Kollegen und lieben Freund, auf dich, meinen und unseren Papá, auf den Gatten dieser wunderschönen Frau, die ich mit Stolz meine Mamá nennen darf, die ihrem Mann immer den Rücken frei gehalten hat und die dafür gesorgt hat, dass du bei all deiner Arbeit auch noch Zeit für uns Kinder gefunden hast.“
Seine Hände waren so feucht, dass er glaubte, das Glas nicht halten zu können. Er kramte ungeschickt ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Er spürte den strafenden Seitenblick seiner Gattin. Die anderen schienen nichts zu merken. Sie hörten Lutz zu, der immer noch redete.
Vater und Tochter hatten ihre alte Vertrautheit im Gespräch wiedergefunden, aber nur da. Wenn sie ihn jetzt einmal umarmte, spürte er die Erregung jedes Mal wie einen Stromstoß, der ihn so durchzuckte, dass er zu zittern glaubte, nach dem er sich aber immer wieder unendlich sehnte. So stahl er sich Blicke auf Bauch und Busen, unbemerkt. Lauerte ihr auf, jagte nach der Beute der Berührungen, beim Zähneputzen im Bad, beim Sonnenbaden im Garten, beim Auskleiden abends in ihrem Zimmer. Nachts ließ er seinen Fantasien freien Lauf, einsam und schuldbewusst. Bis heute war das so. Er litt.
„Ich erinnere mich noch wie heute an das Leuchten deiner Augen, als meine Schwester Rebecca geboren wurde. Und dieses Strahlen hast du bis heute bei ihrem Anblick nicht verloren. Ich muss zugeben, dass mich das hier und da auch mal mit Neid erfüllte. Doch die Liebe des Vaters zur Tochter ist eben eine zärtliche und zum Sohn eine helfende.“
Was hatte Lutz da gesagt? Hatte er etwas bemerkt? Will er mich jetzt hier vor allen Leuten … Kein klarer Gedanke war mehr in ihm. Er spürte die Nässe der Angst unter seinen Achseln. Das Hemd klebte am Rücken. Er roch den Gestank seiner Panik. Das Haar lag klatschnass am Kopf.
Hatte Rebecca nicht gesagt, sie wolle auch noch vor den Gästen sprechen? Irgendwas mit Überraschung? Will sie mich hier öffentlich hinrichten?
Panik ließ seine Hände flatterten wie kleine Vögel, die man kopfüber an den Füßen hält.
„Und, Papá, verstehe das nicht als Vorwurf, sondern als Zeichen eines besonderen Glücks, das ich dir zu genießen von Herzen gönne.
Ein Prosit, verbunden mit allen guten Wünschen für die nächsten fünfzig Jahre von mir, von uns, für dich, lieber Papá!“
Ein Brausen in seinen Ohren. Es wuchs und wuchs. Was war passiert? Die Gäste applaudierten, das war alles. Sie prosteten ihm zu. Langsam fand er zu seiner Fassung zurück und erwiderte die Geste, ein um das andere Mal, wie eine Marionette. Das Klingeln eines Löffels an ein Glas ließ den Beifall verebben. Rebecca trat vor. Es war noch nicht vorbei. Sie ergriff das Wort:
„Lieber Paps, ich nenne dich auch heute so, obwohl wir nicht alleine sind. Ich will es kurz machen, mein großer Bruder hat schon großartig genug geredet. Von mir auch alle lieben Wünsche für die Zukunft. Und …“
Jetzt wird sie mich an den Pranger stellen, vor aller Augen den Staatsanwalt der lüsternen Gier nach dem Körper seiner eigenen Tochter anklagen, von sexueller Belästigung, Nötigung und psychischer Qual sprechen.
„… dir meine Überraschung offenbaren. Zu unser beider Geburtstag lade ich dich ein, mit mir die Reise anzutreten, nach der du dich immer gesehnt hast, die Reise nach Venedig. Mamá musst du nicht um Erlaubnis bitten. Alles ist schon geklärt. Sie interessiert sich ja eh nicht so für Kunstgeschichte. Ich freu mich darauf, Paps. Ich liebe dich!“
„Rebecca, mein Liebes, ich … ich … bin sprachlos vor Überraschung. Ich kann jetzt gar nichts sagen“, stammelte Herrmann.
Seine Tochter rannte in seine Arme, sie umfingen und hielten sich wie damals und früher und vor einem Jahr. Er spürte ihren Kuss auf seiner Wange und roch den Duft ihres Haars, als er sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub, und fühlte ihre Schenkel an den seinen und die alte Erregung und Sehnsucht und Sucht.
Die Gäste applaudierten gerührt. Sie lösten sich voneinander. Dann entschuldigte sich Herrmann, er wolle sich frisch machen vor dem Essen, während die Gäste Platz nahmen zum Diner.
Plötzlich war er ganz ruhig. Er ging hinauf in sein Arbeitszimmer, zog die Smokingjacke und das Hemd aus, streifte sich einen Pullover über und öffnete die alte Segelkiste. Er nahm ein starkes Seil heraus und, als ob er es gestern noch getan hätte, schlug er geschickt den Henkersknoten.
Er spürte die Tränen angenehm über seine Wangen laufen.
Langsam stieg er die Treppe hinauf zum Dachboden.
„Venedig, nur mit dir!“, flüsterte er lächelnd.
Sie fanden ihn nach dem Dessert.
Sie spielt Cello
Guido Kleinmann steht vor dem kolossalen Bau des „Hotel Royal“ in Frankfurt, schaut an der Fassade aus spiegelndem Glas, matt glänzendem Stahl und poliertem Granit empor, die sich in der Unendlichkeit des sternenklaren Nachthimmels verliert, und staunt.
Soll ich, soll ich nicht? Ich weiß nicht, ich weiß nicht, grübelt Kleinmann.
Dann schaut er noch einmal an der Fassade hinauf und sagt sich: Ich mach’ das, ja, ich mach’ das jetzt! Beschlossen, entschieden, fertig! Basta! Mein Gott, bin ich verrückt?! Warum nicht auch mal verrückt sein? Ja, das ist teuer, bestimmt ist das teuer, na und? Ist eben teuer, ich hab’s ja jetzt. Ich muss Dorothee anrufen, war ja nicht klar, wie lang es dauern wird beim Nachlassverwalter. Jetzt noch über sechshundert Kilometer zurückfahren? Nee! Ich mach’s und basta. Ich gehe in dieses Hotel, in diesen geilen, durchgestylten, sündhaft teuren Fünfsterneschuppen. Eine Nacht voller Luxus. Das gönne ich mir. Wehe sie meckert. Ist mein Geld, ganz allein meins. Tante Martha war meine Tante, nicht ihre!
Der Entschluss steht fest.