Seelenzerrung. Winfried Thamm

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Seelenzerrung - Winfried Thamm

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Schwester, alles grün, schöner Regen, Datteln, Feigen, sweet, all is sweet …“

      Und sie malten drauflos, die Kleineren eifrig, die Älteren gelassen. Dabei erzählten sie, woher sie kamen, fragten Heinz, ob er verheiratet sei, ob er Kinder habe, waren erstaunt, dass er nur ein Kind hatte, schauten daraufhin mitleidig, fragten, wie man einen Hasen malt, einen Esel oder ein Kamel. Alle waren beschäftigt und gut bei der Sache, nur einer nicht: Ayan.

      Heinz bemerkte es und setzte sich zu ihm.

      „Du bist Ayan, ja?“, fragte Heinz ihn auf Englisch.

      Ayan nickte.

      „Woher kommst du, was ist dein Land?“

      „Er kommt aus Somalia, Frau Drilling hat gesagt“, krähte Lava dazwischen.

      „Sei mal still, Lava, Ayan soll selbst erzählen“, erwiderte Heinz.

      „Englisch er versteht, aber nix sagen, nie!“

      „Ayan, wie alt bist du?“, versuchte es Heinz weiter.

      Der Junge sah Heinz nicht an und rutschte auf seinem Stuhl etwas nach hinten. Heinz lächelte ihn an, nahm einen Malstift und hielt ihm den vors Gesicht. Ayan drehte zitternd den Kopf zur Seite.

      „Hier, nimm den Stift und male, was du willst. Oder auch nicht. Du musst nicht“, sagte Heinz auf Englisch und strich ihm beim Aufstehen mit der Hand über die Schulter.

      „No!“, schrie Ayan, sprang auf, „don’t touch me! No!“, drückte sich mit aufgerissenen Augen an die Wand. Der Stuhl war mit einem lauten Knall umgestürzt. Dann war es still, ganz still.

      Heinz war zwei Schritte zurückgewichen. Die Handflächen nach unten gerichtet, signalisierte er Ruhe, Rückzug, sagte dann: „Okay, okay, ich lass’ dich in Ruhe, ich fasse dich nicht an.“

      Man hörte das Ticken der Heizung, leises Scharren von Ayans Schuhen, das zurückgenommene Atmen der Kinder. Wie in Zeitlupe begann Ayan sich zu bewegen. Er ging wieder zum Tisch, stellte den Stuhl auf, setzte sich hin, hielt immer den Blick auf Heinz gerichtet, zog aber das leere Blatt zu sich, nahm einen Stift und begann zu malen.

      Alle atmeten auf. Es kam wieder Leben in die Gruppe. Sie malten weiter, sprachen und lachten miteinander. Aber anders als vorher, verhaltener, geduckter. Heinz ging von Tisch zu Tisch, sah sich die Zeichnungen an, gab Ratschläge, half bei Motiven und Details, redete mit ihnen, fragte sie nach ihren Interessen, ihrem Alltag. Und zwischendurch schaute er immer mal wieder hinüber zu Ayan, wie er dasaß und malte. Manchmal konzentriert und akribisch, dann wieder wild kritzelnd und krakelnd. Der schlaksige Junge mit der dunklen Haut ließ Heinz nicht aus den Augen, innerlich auf dem Sprung, bereit zur Flucht.

      So ging es die ganze Doppelstunde lang, fast neunzig Minuten. Als er am Ende der Stunde seine Kreidekästen wieder einsammelte und die Schüler in die Pause schickte, kam Heinz an Ayans Tisch. Der faltete schnell sein Blatt in der Mitte, schob es Heinz über den Tisch mit den Worten: „Here, that’s my spring. (Das ist mein Frühling)!“, und rannte hinaus.

      Heinz faltete das Blatt auseinander und schaute auf das Bild: Drei große, schwarze, stehende Figuren, eckig gezeichnet, mit spitzen Gegenständen, vielleicht Knüppeln, Speeren oder Gewehren, waren zu erkennen. Vor diesen brachialen Gestalten lag eine Vielzahl kleiner, brauner Figuren. Darüber waren in wildem Krickelkrakel, rote, zackige Linien gemalt.

      Hermann setzte sich an den Tisch, sah auf das Bild, stützte seinen Kopf in seine Hände und wusste nicht weiter.

      Am nächsten Tag sprach Heinz seine Kollegin Drilling, die die Flüchtlingsgruppe intensiv betreute, auf Ayan an und erzählte, was passiert war. Heide, so hieß sie mit Vornamen, war entsetzt. Dass die Schul-Orga ihn einfach so kurzfristig in die Gruppe geschickt habe, ohne Infos und ohne Vorwarnung, sei eine Dreistigkeit, eine Katastrophe. Ayan dürfe man auf keinen Fall malen lassen. Er sei erst sechs Wochen in Deutschland. Nach der Ermordung seiner gesamten Familie von Terrormilizen und einer Flucht, bei der er nur knapp dem Tod entkommen sei, sei er jetzt völlig traumatisiert. Psychologen kümmerten sich, es sei aber schwierig. Damit er noch etwas Anderes sieht als nur seine innere Apokalypse, sei er hier in der Schule. Er müsse nichts lernen, erst mal nur überleben. Das sei alles so schrecklich. Er sei ja nicht der Einzige, da gebe es ja noch so viele Schrecklichkeiten, die man gar nicht aufarbeiten oder irgendwie therapieren könne, sie wisse auch nicht weiter … und was sie tun könne … ob das was bringt … sie wisse auch nicht … gebe aber alles.

      Heinz meldete sich krank, ging nach Hause und blieb die nächsten drei Tage auch dort. Er verkroch sich in seinem Arbeitszimmer, recherchierte im Internet über Somalia, Terrormilizen, Hungersnöte, Kindersoldaten und Piraterie. Und wenn es allzu arg wurde, trank er Wein und weinte. Abends besprach er all das mit seiner Frau. Er verband die Fakten aus den Internetartikeln miteinander und verstand langsam die politischen Zusammenhänge in Somalia und die Lebenssituation der Bevölkerung. Und gleichzeitig verstand er nichts. Nicht die Grausamkeiten, die Folterungen, die Vergewaltigungen, die Kindersoldaten, die Morde, die Metzelei.

      Heinz sah sein Leben, seinen Alltag, seinen Unterricht, seinen Feierabend, seine Freizeit, seine Gespräche, Spaziergänge, seine Kino- und Restaurantbesuche, das gemeinsame Kochen und Essen mit seiner Frau und seinen Freunden, sein Leben aus einer völlig anderen Perspektive. Er lebte im Paradies und fühlte sich schuldig.

      In den nächsten Wochen und Monaten hatte Heinz keinen Unterricht mehr in dieser Klasse, fragte aber immer mal wieder seine Kollegin Heide, wie es dem Ayan so gehe.

      Er mache Fortschritte, werde sicherer, fröhlicher und selbstbewusster, meinte Heide. Das beruhigte ihn.

      Zwischendurch in den großen Pausen sah er Ayan häufiger mit Jonas zusammen, einem Schüler, den er aus seinem Deutschkurs in der Oberstufe kannte. Das beruhigte ihn noch mehr.

      Die Sommerferien waren vorbei, das neue Schuljahr begann. Heinz richtete für seinen neuen Theaterkurs die Aula her. Requisiten, Ton und Licht, Kostüme und was man sonst noch so braucht. Die sechste Stunde war vorbei, die einstündige Mittagspause für Lehrer und Schüler begann, als Jonas seinen Kopf durch die Tür steckte und fragte:

      „Herr Scholz, dürfen wir in der Pause hier Musik machen? Der Musik-Reimann hat uns das erlaubt. Wenn wir die Aula verlassen, sagen wir auch einem Lehrer Bescheid, damit er hier abschließt. Ist das Okay?“

      „Ja, na klar. Ich kenn’ dich doch, du machst doch keinen Blödsinn hier drin. Aber was meinst du mit ,wir‘?“, frage Heinz zurück.

      „Na, Ayan und ich, wissen Sie das nicht?“

      „Was?“

      „Wir machen schon seit Urzeiten zusammen Musik!“

      „Nein, das wusste ich nicht, aber das ist ja toll“, antwortete Heinz und spürte, wie er sich schämte für dieses peinliche und steife Lehrerlob. Er zog sich in den Raum hinter der Bühne zurück, um seine Requisiten zu sortieren.

      Jonas spielte auf dem Flügel in der Aula ein paar gebrochene Jazzakkorde als Intro, bis jemand dazu zu singen begann: „If it’s magic …“ Heinz erkannte es sofort: Stevie Wonder!

      Er öffnete die Tür zur Aula ein wenig mehr, um besser hören zu können. Wer da sang, war großartig, wie er sang, war so soulig, mit einer Stimme, die samtig und doch kraftvoll klang, mit einer lässigen Sicherheit immer die richtigen Töne traf und mit ihnen spielte, als habe er nie etwas anderes getan. Heinz war so überwältigt, dass

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