Seelenzerrung. Winfried Thamm
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Jonas legte jetzt ein paar regelmäßige Akkorde auf eins und drei vor, bis Ayan taktversetzt einstieg, nicht als wolle er singen, eher als erzähle er eine Geschichte:
„I see trees of green, red roses too,
I see them bloom for me and you,
and I think to myself …“
Heinz schaute Ayan mit großen Augen an. Er hatte das Gefühl, als singe sich Ayan all seinen Schmerz von der Seele, als singe er sich hinein in ein neues Leben, als erfinde Ayan sich neu in einer anderen, besseren Welt.
Ayan, der nie sprach, der dieses Bild gemalt, der diese Hölle erfahren hat, dieser Ayan sang den alten Louis-Armstrong-Song „What a wonderful world“. Und Heinz glaubte es ihm.
Nach dem Dessert
Es ging um ihn. Er war gestern fünfzig Jahre alt geworden. Jetzt wurde gefeiert. Es ging nicht anders. Herrmann Bomburg, Staatsanwalt, stand ungern im Mittelpunkt. Vor Gericht ja, aber nicht für Lobesreden.
Ein Geburtstag ist weder Verdienst noch Leistung, dachte er.
Etwa vierzig elegant gekleidete Menschen bildeten einen Halbkreis um den Redner. Herrmann stand am rechten Rand und ließ die Ode seines Ältesten über sich ergehen. Nicht ohne Stolz und einem Anflug von Peinlichkeit. Der Salon seiner Villa war festlich hergerichtet. Alle waren bewaffnet mit Sektflöten und Feierlächeln. So viele schöne Menschen.
Ihm gegenüber sah er sie. Grazil und geschmeidig zugleich, die Schönste von allen. Immer wieder flog sein Blick zu ihr hinüber. Er konnte es nicht lassen. Sie lächelte leise.
„… und ich bin stolz darauf, in deine Fußstapfen getreten zu sein. Nein, du hast mich nicht gezwungen, nicht genötigt gar, nur geführt in meinen wilden, hormongeschüttelten Zeiten als Gymnasiast, weder mit harter Hand noch mit Handschellen … (Vereinzeltes amüsiertes Kichern) …, sondern mit Verständnis und Beharrlichkeit hast du mich an meine Pflicht erinnert, ein nicht nur gutes, sondern das beste Abitur zu schaffen und mich auf mein Studium der Jurisprudenz zu konzentrieren.“
Ja, dich habe ich immer im Griff gehabt, Lutz. Nur ein folgsamer Sohn ist ein guter Sohn. Wenn du auch weiterhin auf mich hörst, wird es dir gut gehen. Fleißig bist du ja, aber dir fehlt die Fantasie. Rebecca ist da ganz anders, dachte er.
„Wie oft habe ich mir bei dir Rat geholt in schwierigen Fragen und wie oft hast du mich motiviert, nicht auf-, sondern alles zu geben. Getreu deinem Motto: Nicht das Vergnügen sei des Menschen Pflicht, sondern die Pflicht sei des Menschen Vergnügen.“
Herrmann musste grinsen: Wunderschön formuliert. Reden kannst du. Das muss ich dir lassen.
„Dadurch habe ich zwar eine Reihe von Besäufnissen mit meinen Kommilitonen verpasst … (wieder leichte Heiterkeit in der Runde) … aber wenn das meinem Ruf geschadet hat, dann nur bei den Zechern unter meinen Weggefährten. So konnte ich mit deiner moralischen und gleichwohl fachkompetenten Unterstützung schon in diesem Frühjahr mein erstes Staatsexamen summa cum laude feiern.“
Diese Selbstlobhudelei! Lutz, du bist so peinlich! Rebecca lächelte nicht mehr. Sie stieg ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Herrmanns Blicke waren wieder bei ihr. Was hatte sie nur verärgert? Er lächelte sie an, schlug die Augen nach oben und hob leicht die Schultern. Da zeigte sie Grübchen und blitzte keck herüber. Sie verstanden sich wortlos.
Ein langes, silbernes Kleid mit einem hohen seitlichen Schnitz floss um ihre schlanke Gestalt. Das dunkle Haar war hochgesteckt, die Lippen signalrot.
Rebecca, seine kleine Prinzessin, achtzehn Jahre jung, seit gestern, am gleichen Tag geboren wie er. Das Collier hatte sie von ihm bekommen. Lutz, Bemerkung, so etwas schenke man doch eher seiner Frau und nicht der Tochter, hatte ihn getroffen.
„Und dieses Fest war, wie du weißt, im wahrsten Sinne des Wortes nicht von schlechten Eltern. Doch obwohl du in deiner so eigenen Bescheidenheit deinen runden Geburtstag lieber im Schoße deiner Familie feiern wolltest, hat Mamá die Organisation in ihre preußischen Hände genommen und diese „Festkutsche“ zu einem gesellschaftlichen Ereignis gelenkt, bei dem die Garde deiner beruflichen Weggefährten nicht fehlen durfte.“
Wie schön du bist. Seine Gedanken schweiften ab in die Zeit, als sie noch klein war. Das war die Phase, in der er an seiner Karriere arbeitete und selten zu Hause war. Doch wenn, dann spielte und tollte er mit ihr herum. Wenn er mit ihr Karussell spielte, juchzte sie vor Glück. Das war auch sein Glück. Er hatte sie schon immer gerne in den Armen gehalten, angefasst und sie war bei jeder Gelegenheit auf seinen Schoß geklettert. Das hatte sich auch in der Pubertät kaum geändert. Mit Bewunderung und heimlichem Schmerz hatte er das Knospen ihrer Brüste wahrgenommen, das Runden ihrer Hüften. Doch sie waren sich immer noch sehr nah gewesen, auch heute noch.
Auch heute noch? Kleine Schweißperlen einer unbestimmten Angst krochen leise auf seine Stirn.
„Und wir, die Familie, sind froh darum, dass sie alle gekommen sind, deine langjährigen Kolleginnen und Kollegen, die Mitstreiter für Recht und Ordnung und gegen das Verbrechen. Sie hätten sonst auch kein privates Wort mehr an dich gerichtet, im Gericht.“
Das fröhliche Lachen der Gäste auf die gelungene Pointe nahm Herrmann nicht mehr wahr. Er hatte immer häufiger ihre unschuldige Nähe gesucht. Sie hatte nie Angst vor ihm empfunden, warum auch? Doch er hatte Angst vor sich selbst, denn er wusste um die Erregung, die sie auslöste. Manchmal war er nachts in ihr Schlafzimmer gegangen, nur um sie anzusehen, gelegentlich ihr Haar zu berühren, um dann schnell wieder hinauszuschleichen, gepeinigt von schlechtem Gewissen und noch schlechteren Wunschträumen. Völlig verstört hatte er dann nach solchen Besuchen stundenlang in seinem Arbeitszimmer gesessen und sich selbst nicht mehr verstanden, nicht mehr vertraut.
„Meine bescheidene Ode an dich, Papá, soll auch bald ein Ende finden, aber nicht ohne dein besonderes Engagement zu erwähnen, dass du in deiner Karriere als Staatsanwalt in deiner dir eigenen Beharrlichkeit gezeigt hast. Besonders am Herzen lagen dir, neben all den Opfern der Verbrechen aus Habgier und Gemeinheit, die Frauen und Kinder, die gedemütigt, misshandelt und vergewaltigt wurden von perversen Psychopathen und brutalen Kinderschändern. All die Menschen, denke ich, sind dir, bei all ihrem Leid, zu ewigem Dank verpflichtet für deinen konsequenten Einsatz.“(Applaus)
Herrmanns Erinnerungen brachen sich Bahn, unaufhaltsam: Eines Abends, etwa vor einem Jahr, war sie spät zu ihm ins Wohnzimmer gekommen und hatte sich neben ihm auf die Couch gesetzt.
„Paps, wir müssen mal reden“, hatte sie begonnen und ihm fest in die Augen gesehen. Die gleiche Panik, die er auch jetzt spürte, hatte seinen Brustkasten umschlossen.
„Du, wir sind doch nicht nur Paps und Rebecca, wir sind doch auch … gute Freunde.“
„Na sicher, mein Schatz.“ Die Spannung löste sich aus seinen Muskeln.
„Hör mal, du weißt doch, dass ich einen Freund habe, den Jonas.“
„Das ist dein Freund? Ich dachte, es sei nur ein, na ja, netter Mitschüler.“
Er hatte seine Kränkung nicht verbergen können.
„Nein, wir gehen schon