Das perfekte Wirtshaus. Jürgen Roth
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Droben ist Natur, droben ist Tourismus, zu einem aparten Paar vereinen sie sich höchstens bei Einbruch der Dämmerung. Drunten ist, sobald unser Dampfer als das von der halben Stadt inklusive Brot, Bürgermeister, Salz und Trachtentruppe erwartete und jeden anderen im Hafen herumlungernden Rest- und Rostkahn zufriedenstellend überragende Symbol des Aufschwungs andockt, das Leben.
Beim buddhistischen Dahintreiben auf dem Fluß neigt sich die Wahrnehmung nach innen, sofern man das ewige, breite Fließen für ein Bild stiller Erhabenheit erachtet, das mythische Konnotationen transportiert. Es genügt indes genauso, einfach nur das sanfte, einnickende Ufer dahingleiten zu sehen und die Bezeichnung »Dampfer« als Euphemismus dingfest zu machen. Dampfen, brausen, rauschen tut’s wenige Schritte vom Pier entfernt.
Der Fluß und das Leben, der »heilige Strom« (Gorbatschow) und die säkularen Menschen: In der Welt ist in Rußland, wer sich, kaum hat er hundert Schritte getan, im erstbesten Bierzelt einfindet, unter einem der zahllosen, aus Plastikplanen gefügten und von einer der expandierenden heimischen Großbrauereien gesponserten knallbunten Baldachine, unter denen das Glas- und Plastikflaschenbierangebot Ausmaße annimmt wie die Kartoffelchipsabteilung im amerikanischen Supermarkt. Und obwohl diverse der den Markt überschwemmenden Sortimente an Turbovergärung und Fuseltuning gemahnen – weshalb man sich zuzeiten als Bierzurückgehlasser oder immerhin Bierstehenlasser betätigt –, schiebt die auf Vergnügen und Eros geeichte Jugend, als gebiete ihr das ein ehernes Gesetz der Tradition, eine Fuhre nach der anderen in sich hinein, geschlechtlich paritätisch verteilt.
Der von der Staatsduma unternommene Versuch, ab 1. April 2005 das Biertrinken aus der Öffentlichkeit per Gesetz zu verbannen, ist am Veto des Föderationsrates gescheitert. Die blühende Bierbranche atmet auf, die Mehrheit der Russen atmet durch. Das Bier aus der Flasche – im Gehen oder im Zelt, auf der Parkbank oder auf den Stufen der imposanten, von marmornen Propyläen und Kandelabern gesäumten Granittreppe des Wolgograder Flußhafens genossen – befördert eine erdnahe Beschwingtheit in unmittelbarer Nähe zur nassen Lebensader des Landes, eine sukzessive befeuerte Freude, die jene Melancholie verscheucht, die man hier allenthalben auch zu gewärtigen meint.
Gewiß, in Uljanowsk, wo der Hafen zerbröselt wie die Kulisse der Breschnew-Plattenbauten oben am Berg, erfüllt das Bierzelt vornehmlich elendstrinkerische Funktionen, und in Kasan stapeln sich im ferrariroten Bierunterschlupf rund ums markenstrotzende Bierdepot pro forma ein Sixpack Wasser, indifferente Säfte, Eisweintinkturen, Fischdosen, Kaugummischachteln und anderweitiger »magenfüllender Unfug« (E. Henscheid). Doch ob im hafennahen Park von Saratow – der »Stadt des Kühlschranks« –, wo sich die schönsten Frauen der Welt, begleitet vom unvermeidlichen Dröhnpop, zum Bier vor den ihnen zugewiesenen Zelten versammeln, oder an der Bierflaniermeile Wolgograds mit ihren schlicht bis diskopeppig orientierten Zeltbauten: Überall verdampfen das Elend der Ökonomie und der Terror der Geschichte in der emphatischen Gegenwart der vergorenen Gerste, und sei’s für ein paar illusorische Augenblicke.
Wenn das Licht der Stadt am abkühlenden Horizont im Tintenschwarz des Himmels versickert, ist man wieder unterwegs – und zurückgeworfen in die Tristesse des touristischen Teilzeitdaseins. Trost spendet allein Gottfried Benn: »Wen Bier hindert, der trinkt es falsch.« Oder doch Dostojewski? »Der betrunkene Russe ist vielleicht gemeiner als der betrunkene Deutsche, doch ist dieser zweifellos dümmer und komischer als der Russe.«
Oder umgekehrt? Wir denken bei einem Baltika Export 7 noch mal verschärft versonnen darüber nach.
Dialektischer Durst
Es gibt ja bundesweit, ob auf dem Land oder in der Stadt, nahezu keine Wirtschaft mehr, in der man, egal, ob man sie zur durstlöschendsten Zeit um 14.23 Uhr, zwecks Frühschoppenaufmunterung oder zum hirnkrampflösenden Abendbierausklang betritt, nicht berieselt, belästigt, akustisch besabbert wird. Denn es gehört zur akuten modernen Conditio humana wie der Reformstau und die flächendeckende neoreligiöse Demenz die scheinbar durch nichts mehr einzudämmende Verlärmung der Existenz selbst dort, wo der gebeutelte einzelne durchaus mal zu sich kommen, einem Gedanken nachhängen und darob den Rand halten könnte.
Da der moderne Mensch seinerseits offenbar alles vermag, außer die Klappe zu halten, die er mitunter allein sachte zu öffnen sich anschicken sollte, wenn er einen Schluck Wein, einen Nipper Wasser, einen Hieb Wodka oder einen Schwall Bier durch jene in sich hineintransportieren möchte, vermag er es nicht mehr, einfach für sich zu sein, wo allein und still und vergnügt oder traurig zu sein nach Karl Kraus einzig wirklich möglich ist: in der dezenten Öffentlichkeit eines Gasthauses.
Doch, so dialektisch diffizil ist die Lage. Je unbarmherziger dem einzelnen vor Augen geführt wird, daß er nutzlos ist wie eine Gerstenspelze, alleingelassen, verworfen, weggeworfen, desto mehr verlangt es ihn nach simulierter Geselligkeit, und deshalb nimmt er es, mitten ins allgemeine Kuddelmuddel des dummen spätkapitalistischen Lebens geworfen, unwidersprochen oder sogar insgeheim dankbar hin, selbst dann, wenn er endlich für sich sein könnte, in der am besten angenehm leeren Wirtschaft, mit Technojazz und Tahiti-HipHop zugespachtelt zu werden, ohne Unterlaß und von Jahr zu Jahr in stramm anschwellender Lautstärke. Die Welt, die einem nichts mehr sagt und in der man nichts mehr zu sagen hat, sie töne.
Daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, besagt ein allzu bekanntes Bonmot von Theodor Wiesengrund Adorno, ein, näher betrachtet, nicht gerade einleuchtendes zumal übers, genauer, Wohnen im Spätkapitalismus. Adorno war kein großer Kneipengänger, seinen Wein- und Champagnerdurst befriedigte er eher privat. Lediglich den morgendlichen Cognacbrand bekämpfte er zusammen mit seinen Spionen aus den Reihen des SDS im Frankfurter Café Laumer. Getarnt waren diese Flüssigkeitszufuhren als »Frühstück«.
Mehr als dreißig Jahre später kann einem in einem Odenwälder Dörfchen mit dem schönen Namen Winkel allerdings aufgehen, daß Durst und Dialektik, dieser manchmal selbst vom Odenwald- und speziell Amorbach-Fan Adorno geringfügig überstrapazierte Denkmodus oder -habitus, durchaus verschwistert sein mögen – nicht weil zuweilen mit Abnahme des Pegelstandes etwa im Bierglas das Bedürfnis nach einem weiteren und womöglich noch großzügiger bemessenen Bierpokal seltsamerweise wächst, sondern weil in Winkel, jenem an einem der malerischsten Berghänge Zentraleuropas gelegenen Ort, eine altmodische Ausflugsrestauration schlicht und herzergreifend Zum Wiesengrund heißt. Und in der hocken am Freitagabend drei bis acht vorsichtig plaudernde Gestalten unbestimmter Herkunft herum, und während sie weder grölen noch Parolen schmettern, tröpfeln aus unsichtbaren Lautsprecherboxen ganz behutsam doofe Treuherzschlager, die Begleitgesänge deutschen Tums und deutscher Barbarei.
Im Vergleich zu der alltäglichen Erfahrung, die man macht, wenn man seinem Durstgefühl folgt, ist das nahezu plausibel, nein: gefällt das regelrecht. Man bleibt sitzen und bestellt ein viertes Glas, eines schon beinahe über den Durst. Das ist gewiß ein gewissermaßen dialektischer, ein verzwickter Vorgang, eine annäherungsweise adornitisch komplexe, gleichwohl prima praktische Erkenntnis, hab’ ich den Eindruck. So weit hat uns die Welt mittlerweile gebracht. Oder eben mich. O Wirrnis!
Beckettistisches Bier
Woran liegt es, daß mir bis in alle Ewigkeit das Klischee anhängt, ich sei Neuköllner, säße am Hermannplatz und tränke dort endlos Bier im Blauen Affen? »Weil Journalismus ist, wenn ein abgebrochener Germanist vom anderen aus dem Internet abschreibt.« Aha! Oder drängt das Bedürfnis, feste Bilder gleich Namen zu prägen? Andererseits ist es ein behagliches Tableau, und ich figuriere den Schwachsinn eben weiterhin