Ich hätte König sein können. Helmut Sorge
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Ich bin mir nicht sicher, ob der Pianist Selbstgespräche geführt hat. Er hustete häufig, zuweilen röchelte er. In solchen Sekunden fürchtete ich, seine Zahnprothese sei verrutscht und er drohte zu ersticken. Seinen Briefkasten hat er nie geleert, das scheint verbürgt. Über Monate quollen dieselben Drucksachen heraus. Der Hauswart hatte irgendwann einen Karton unter die Postfächer gestellt und den „postier“ angehalten, die Sendungen für den schweigsamen Bewohner dort hineinzuwerfen. Sobald der Kasten gefüllt war, entsorgte der Concierge die gesamte Post im Müll. Der Pianist beklagte sich nicht, verriet mir der Verwalter. Er schien erleichtert, dass ihm diese Arbeit abgenommen wurde.
Beifall für ein unerträgliches Frühkonzert
Täglich punkt 9 erschien der Anonyme auf dem Platz, als wollte er sich den Beifall für sein unerträgliches Frühkonzert abholen. Maestoso. Gravitätisch. Ich schätzte ihn auf 1,88. Er war hager bis mager, eingefallen, blass. Er versuchte seine Glatze zu verbergen, indem er die verbliebenen Haare bis in den Nacken wachsen ließ und sie dann, von hinten gegelt, bis an die Stirn führte. Er hätte es mit einem Hut einfacher gehabt. Nur klassische Pianisten spielen offenbar nicht mit Mütze, nur Jazzer. Seine Hosen entsprachen der Haarfarbe: grau. Seinem blauen Blazer fehlten mehrere der goldgefärbten Knöpfe. Der Hemdkragen, vielleicht war es das einzige Hemd, das er besaß, war zerlöchert und an den Rändern zerfressen. Von den schwarzen Lackschuhen, die der Gentleman vergangener Epochen zum Smoking oder Frack schätzte, hatte sich der Lack abgemeldet; nur einige wenige Bereiche der Schuhe glänzten wie in früheren Zeiten. Hose, Hemd und Jacke fehlte jede Form. Sie waren einem Bügeleisen seit Langem entkommen. Womöglich schlief mein Nachbar in seiner Kleidung, weil ihm ein Schrank fehlte. Oder eine Daunendecke für den Winter.
Er schlurfte nicht etwa auf den Platz, sondern trat erhaben auf, selbstbewusst. Der Künstler blickte hinauf auf die wunderschönen Fenster in den historischen Gebäuden, so, als vermute er dort die Logen seiner Oper, seine Fans sowie Claqueure. Oder den Kommissar Jules Maigret. Den hat Romancier Georges Simenon nämlich zum Stammgast des Restaurants „Au trois Marches“ werden lassen, auf dem Place.
Der Pianist verneigte sich, nur einmal, vielleicht setzte ihm die Bandscheibe zu. Danach setzte er sich auf die Bank im Zentrum. 9 Uhr, täglich. Bis 11. Der Kunstschaffende las weder ein Buch noch eine Zeitung. Stattdessen fütterte er Tauben und Spatzen mit Brot, einem dieser geschnittenen Toastsorten, die nach einem versehentlichen Fall auf den Boden hochschnellen wie ein Basketball.
Zwei Stunden lang. Sieben Tage pro Woche. Womöglich hörte er aus der Ferne die Stimme Montands, der in seiner Parterrewohnung täglich mit einem Pianisten übte. Vielleicht machte ihn dieser Musiker neidisch.
Mein Nachbar war ein Greis, 80, 90, vielleicht auch ein frühzeitig zerfallener Sechzigjähriger. Selbst an Regentagen verfolgte er seinen Tages-Wochen-Monats-Jahresplan. An solch düsteren Tagen war er von einem übergroßen Regenmantel umhüllt, grau wie Hose, Haare und Gesicht. Er hockte auf einem gefalteten, grünen Badetuch. Gewitter schreckten ihn nicht. Wenn die Blitze zuckten, flüchteten Tauben und Spatzen, der Pianist blieb auf seiner Bank im Zentrum des Place Dauphine. Allerdings öffnete der enigmatische Entertainer einen übergroßen, karierten Golfschirm, dem einige der Drahtstützen fehlten und der deshalb wie ein zusammengerutschtes Zelt wirkte. Darunter hockte er wie eine Skulptur, eine kopflose. Magritte hätte ihn als Modell nutzen können. Zumindest den Hals, der schwanenähnlich gebogen war.
Plötzlich sprachen die Nazis französisch
Dreimal wöchentlich hörte ich seine hohe Stimme, die sich in Kastratennähe bewegte. Eine bezopfte ältere Frau, deren Strickstrümpfe gummibandverstärkt unterhalb der Knie endeten, belieferte den Greis mit Lebensmitteln. Da mein Nebenan keine Klingel oder selbige abgestellt hatte, klopfte die Frau, dreimal wöchentlich, zunächst behutsam nachsichtig, an die Tür. Nach einigen Minuten verlor sie, dreimal wöchentlich, die Geduld und hämmerte mit ihren Fäusten. Vielleicht war der Musiker schwerhörig, was seine klägliche Musik und das ungestimmte Piano forte erklären würde. Oder er litt an Alzheimer, erste Symptome, denn wie anders war es zu deuten, dass er über Jahre die Rendezvous mit seiner einzigen Kontaktperson vergaß? Der Alte, das konnte ich hören, begrüßte seine Lebensmittellieferantin nicht etwa mit einer Entschuldigung, sondern rügte sie: „Sie sind zehn Minuten verspätet.“ Sie reagierte nicht, reichte ihm eine Rechnung. Er zahlte und schlug die Tür zu. Seine Kommunikation des Tages.
Der Pianist besaß weder ein Radio noch einen Fernseher, wie mir der Concierge verriet; lediglich ein Feldbett, ein verstimmtes Steinway-Piano und die Einsamkeit. Angeblich las er die rechtsextreme Postille „Minute“.
Der stumme Monsieur hatte sich eben auf seiner Bank niedergelassen und die ersten Tauben besetzten seine Knie, als die Nazis den Place Dauphine stürmten. Hitlers Handlanger. Der Künstler rührte sich nicht, allerdings sah ich von meinem Fenster aus, wie er die nun nachrückenden Panzerspäh- und Kübelwagen, allesamt an den Hakenkreuzen erkennbar, beobachtete, vor allem die Kradfahrer, die Wehrmachtsstahlhelme trugen. Und die Männer in schwarzen Ledermänteln, die Frauen und Männer an eine Wand drängten, unweit des Cafés, in dem Yves Montand Stammgast war.
Zugegeben, für einige Sekunden war ich irritiert, verwirrt ob dieser Szenen meiner Kindheit. Kriegskind in alle Ewigkeit. An der Zufahrtsstraße zum Pont Neuf machte ich Pariser Polizisten aus, die auf ihren Hochglanz geputzten BMW-Motorrädern saßen und die chaotischen Szenen auf dem Place verfolgten – Dreharbeiten. Hollywood an der Seine. Monsieur X rührte sich nicht. Er fütterte seine Tauben.
Wusste mein Nachbar, dass dies nicht 1944 war, jener dramatische Pariser August des Widerstandes, sondern ein halbes Jahrhundert später? Nicht der Kampf der Résistance gegen die Besatzer, stattdessen der Versuch, einen Aspekt der Geschichte aufzuarbeiten?
Ein Mann, der Bootsschuhe ohne Socken trug, eine eng geschnittene Jeans und ein T-Shirt, dazu eine Baseball-Mütze, trat den deutschen Soldaten entgegen und befahl: „Cut!“
Plötzlich sprachen die Nazis französisch miteinander, und sie genossen die von der Produktion bestellten „Tartines“, Landbrot, belegt mit geräuchertem Schinken, Lachs, Paté oder Käse. Ich hatte vom Fenster aus einen Tribünenplatz und verfolgte, wie die schwergewichtige Besitzerin des Restaurants „Chez Paul“, Nachbarin der Montand-Wohnung, die Filmarbeiten zu einer Vergangenheit beobachtete, die ihr durchaus vertraut war. Kurzfristig war ich also abgelenkt und hätte so den Abgang meines Nachbarn von seiner Spatzen-, Katzen-, Köter-, Taubenkot bedeckten Bühne beinahe nicht gesehen – der war dramatisch. Der Typ, der eben „cut“ gerufen hatte, vermutlich der Regisseur, versuchte einen SS-Offizier vor den Faustschlägen des greisen Pianisten zu schützen. Er, ausgerechnet dieser stumme, in seine eigene Welt versunkene Greis.
Lunch mit Blick auf das antiquierte Klo
Tatsächlich müssen die Filmszenen Erinnerungen in dem Musiker befreit haben; aus der Vergangenheit projezierte Bilder, die den Pianisten aus dem mentalen Gleichgewicht trieben und völlig unerwartet versperrte Türen aufrissen. Auf dem Weg zurück zu seiner Wohnung trat der Greis auf den SS-Mann zu und spuckte ihm ins Gesicht, nicht nur einmal. Obendrein trat er dem Uniformierten ins Geschlechtsteil. Immerhin waren die Gebeine meines stummen Nachbarn noch gelenkig. Sodann setzte er dem Schauspieler seine Faust ans Kinn. Mein Nachbar! Der Darsteller traf ihn mit mehreren Kontern am linken Auge und knallte ihm eine Rechte auf die Nase. Die blutete heftig, ein Auge war blutunterlaufen und schwoll an. Der Pianist war gezeichnet, wie der Brite Henry Cooper nach seiner Begegnung mit Cassius Clay (Muhammad Ali) im Juni 1963 in London. Erstmals zeigte das Gesicht des Künstlers in all diesen Jahren unserer stummen