Eine spanische Eröffnung. Harald Kiwull
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Ich blickte am kahlen Stamm hinauf. Der erste Halt war hoch, auch für mich mit meinen 1 Meter 96 kaum zu erreichen. Ich sprang, berührte knapp den armdicken Ast mit der rechten Hand. Auch ein zweiter Versuch war erfolglos.
Ich horchte. Aber es war nichts zu hören.
Ich nahm einige Schritte Anlauf, konzentrierte mich, rannte vor, sprang mit aller Kraft und setzte gleichzeitig den rechten Fuß gegen den schrägen Stamm, als wollte ich an ihm hinauflaufen. Und da hatte ich ihn. Mit der rechten Hand umklammerte ich den knorrigen Stummel, sammelte mich, dann fasste ich auch mit der linken Hand nach. Einen Augenblick hing ich so. Etwa zwanzig Zentimeter über meinen Händen, etwas seitlich, ein weiterer Halt, um höher zu klettern. Ich machte einen Klimmzug und fasste ihn blitzschnell mit der linken Hand. Ich zog mich nach oben und schaffte es, ein Bein über den unteren Ast zu bringen.
Wenig später hatte ich die steile Wand bezwungen. Ich blickte zurück in den Abgrund, meine Beine zitterten, aber plötzlich erfasste mich ein verblüffendes, starkes Glücksgefühl. Ich hatte die Schlucht bewältigt und es den Burschen gezeigt. Ich hielt es für ausgeschlossen, dass sie mir bis hierher folgen konnten.
Nach einigen Schritten ließ ich mich auf einer grasbewachsenen, schrägen Böschung auf den Rücken fallen. Versuchte ruhig durchzuatmen. Der Wind war etwas stärker geworden und rauschte leise in den Bäumen, bewegte leicht ihre Kronen. Das Grün der Blätter und Nadeln glitzerte über mir vor dem tiefdunklen Blau des Himmels in der Abendsonne.
Die Fischer drüben in Peñíscola hatten ihre Fracht längst abgeladen, und in den Lokalen am Hafen und in der Altstadt mit den kleinen, in der Abendsonne blendend weißen, ineinander verschachtelten Häusern den Berg hinauf machten sich die Köche daran, die Fische für die abendlichen Gäste vorzubereiten.
Und über allem ragte die auf den Grundmauern einer maurischen Burg erbaute Zitadelle des Templerordens aus dem vierzehnten Jahrhundert empor, in der der Gegenpapst Benedikt XIII. bis zu seinem Tod Zuflucht gesucht hatte.
Ich schloss die Augen. Was war eigentlich passiert? Ich konnte mir das alles nicht erklären. Warum hatten mir die Kerle dort unten vor dem kleinen Haus am Rande der Sierra, das ich für drei Wochen bewohnte, aufgelauert?
Meine Gedanken gingen zurück. In einem dieser „Weißen Dörfer“ in den Bergen Andalusiens war es gewesen. Ich befand mich zum ersten Mal in Spanien und hatte fern von allen Sprachkenntnissen in dem kleinen Dorfladen vor mich hin gemurmelt: „Verdammt noch mal. Gibt es denn hier kein Schwarzbrot?“
„Nein. Das werden Sie hier nicht finden.“
Eine zierlich, grauhaarige Frau hinter mir lächelte mich liebenswürdig an. Und so lernte ich Gerda kennen. Sie wirkte auf mich unglaublich beeindruckend und sympathisch. Über viele Jahre trafen wir uns immer wieder. Eine tiefe Freundschaft entwickelte sich. Sie wohnte seit Jahren im Dorf. In Frigiliana. Und einige Zeit, nachdem wir uns kennengelernt hatten, erzählte sie mir ihre Geschichte.
Als sie in Deutschland ins Rentenalter gekommen war, fühlte sie sich von Jahr zu Jahr unwohler. Ihre Tochter wollte nichts von ihr wissen. Ihre Freunde und Bekannten erschienen ihr immer nichtssagender. Eines Tages las sie in der Zeitung „Die Zeit“ einen Reisebericht über Andalusien und die „Weißen Dörfer“. Nachdem sie einige Zeit darüber nachgedacht hatte, schrieb sie einen Brief an den Bürgermeister des Dorfes. Auf Deutsch! Sie schrieb ihm, sie würde gern zu ihm kommen und in seinem Dorf wohnen.
Ein Vierteljahr verging, sie hatte ihre Hoffnung auf eine Antwort schon längst aufgegeben. Aber an einem Freitag, den dreizehnten, – sie konnte sich genau daran erinnern – überreichte ihr der Postbote einen Brief mit einer spanischen Briefmarke. Eine ganze Weile zögerte sie, ihn zu öffnen. Dann fasste sie Mut.
In unbeholfenem Deutsch schrieb ihr der Alkalde, der Ortsvorsteher, sie könne kommen. Er habe eine Wohnung für sie. Und er freue sich.
Einen Monat später hatte sie in Deutschland alles aufgelöst und ihrer Tochter und den Bekannten mitgeteilt, sie wohne in Zukunft in Spanien.
Erst ewig mit der Bahn und dann mit dem Bus die Berge hinauf gelangte sie nach Frigiliana. Sie stieg aus und wanderte aufgeregt mit ihrem kleinen Koffer in der Abenddämmerung die Dorfstraße entlang. Rechts und links saßen alte Frauen und Männer vor ihren weißen, kleinen Häusern. Kinder spielten. Und von allen Seiten wurde ihr zugelächelt und sie in dem ihr unverständlichen Spanisch begrüßt. Und da beschloss sie: Hier fühle ich mich wohl. Hier bin ich jetzt zu Hause.
Damals war sie gerade siebzig geworden.
Das war vor vielen Jahren. Gerda lernte Spanisch. Wurde nach einiger Zeit von allen Dorfbewohnern geliebt. Kümmerte sich um die zahlreichen herrenlosen Hunde und Katzen. War glücklich.
Oft besuchte ich sie in diesen Jahren in ihrem Dorf. Wir führten lange Gespräche, und sie bereicherte mich in ihrer liebevollen, menschlichen Art. Ich begann in dieser Zeit, Spanisch zu lernen und bekam damit auch einen Zugang zu ihren Nachbarn und den vielen Freunden.
Als sie die Neunzig überschritten hatte, entschloss sie sich, nach Deutschland zurückzukehren. Auch diesen Umzug ging sie entschlossen und selbstbewusst an. Sie mietete sich in einem bayerischen Kurort eine Wohnung in einem Haus, in dem sie auch betreut werden konnte. Ihr spanisches Dorf dort oben in den Bergen gestaltete ihr einen unglaublichen Abschied. Und an jedem ihrer Geburtstage in Bayern reist eine Gruppe von früheren Freunden aus Frigiliana an.
Auch ich besuchte sie an einem dieser Tage. Und da erzählte sie mir dann am späten Abend die wahre Geschichte ihrer Flucht damals aus Deutschland nach Spanien und saß dabei Hand in Hand mit einem weißhaarigen, sehr sympathischen Herrn neben sich auf der Couch, der sicher auch schon an die neunzig Jahre alt war.
Nicht nur wegen der Familie und der Freunde hatte sie Deutschland verlassen, sondern vor allem wegen ihrer großen Liebe zu diesem Mann, zu Henrik. Aber Henrik war verheiratet und hatte zwei Kinder. Sie wollte diese Ehe nicht zerstören. Und deswegen kehrte sie dem gemeinsamen Ort und ihm den Rücken und ließ sich im Süden nieder.
Seine Briefe, die er ihr regelmäßig schickte, legte sie ungelesen in eine Schublade. Ihr Gefühl für ihn blieb über all die Jahre so groß, dass sie es nicht verkraften konnte, sie zu lesen. Deshalb erfuhr sie auch erst nach ihrer Rückkehr von ihm persönlich, dass er schon seit Jahren Witwer war, aber auch, dass er sich die ganze Zeit nach ihr gesehnt hatte und sie immer noch liebte.
Da saß Gerda nun vor mir neben der großen Liebe ihres Lebens. Die beiden 90-Jährigen glücklich lächelnd nebeneinander. Ich machte keinen Versuch, meine Rührung zu verbergen.
Einige Jahre vor ihrer Rückkehr nach Deutschland hatte sie zu ihrer Überraschung von einem Patenonkel ein kleines Haus oberhalb von Alcossebre in der Sierra geerbt. Er hatte dort über Jahre gewohnt und war wohl so begeistert über ihre Umsiedlung nach Spanien, dass er es ihr überlassen wollte.
Natürlich zog sie nicht dahin um, aber mit der Sommervermietung konnte sie ihre schmale Rente etwas aufbessern. Und so war ich an dieses Haus gekommen. Den Schlüssel hatte ich, wie sie mir am Telefon sagte, unter einem Stein gefunden.
Nach einem üblen Prozess über sechs Verhandlungstage mit drei renitenten Angeklagten, großspurigen Anwälten