Das purpurne Tuch. Wolfgang Wiesmann
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VI Der Schwur
Erschöpft torkelte sie durch einen lichten Wald, setzte sich für eine Pause ins Laub und wünschte sich für die Nacht einen sternenklaren Himmel. Auf See wäre sie nicht so hilflos wie in diesem fremden Land. Sie musste einen Handelsweg finden, der ihr Orientierung gab und sie letztlich an die Küste führen würde, dorthin, wo das Meer ihr eines Tages ein Schiff schicken würde, um zurück in ihre Heimat kehren zu können.
Ihr gefiel der Gedanke, von nun an Siobhan zu heißen. Den Namen hatte Kafur ausgesucht. Ein gälischer Name machte sie zu seiner Braut, zu seiner Schwester, seiner Stammesfürstin. Ein Blick auf ihre von Schlamm und Lehm verdreckten Schuhe veranlasste sie, sich zu fragen, warum sie sich immer noch auf der Flucht glaubte. Dann brach ihre ganze verhängnisvolle Lage über ihr zusammen. Sie war seit Stunden unterwegs. Niemand verfolgte sie. Nein, in Wirklichkeit war sie weggelaufen von den Blicken Kafurs, der ihr die Freiheit erkämpfte und ihr glückerfüllt nachsah, als sie den Wachen entkam. Sie erkannte nun unter Tränen, dass sie den Mann verloren hatte, den sie liebte, als Schwester, als Braut, als ewige treue Hälfte seines Lebens. Er war tot und sie lebte und das bedeutete von nun an auch sein Leben weiterzuführen. Vor allem seine Tugenden: die Kunst der Diplomatie und eine Kraft, die so neu und stark für sie war, dass es nur die Liebe sein konnte.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, wobei ihr Haar an den klebrigen Stellen des Harzes haften blieb, mit dem der Ring des legendären Hannibal an ihrem Finger befestigt worden war. Die filigranen Schnitzereien zeigten den Kopf des einstigen Feldherrn, der sich im zweiten Punischen Krieg gegen die Römer geschlagen geben musste. Das karthagische Reich zerfiel, aber nicht der Ruhm des größten Feldherrn seiner Zeit. Sicher hatte Assuman das wertvollste Erbstück Hannibals ausgesucht, um den Göttern zu huldigen. Doch Kafur hatte mit List und Todesmut das Schicksal zu ihren Gunsten entschieden. War er ein Gott, einer in Menschengestalt? Er hatte es gewagt, sich vor die Götter von Stonehenge zu stellen, hatte ihnen das Opfer streitig gemacht und gesiegt. Sie lebte und trug das Abbild Hannibals an ihrem Finger. Wenn Kafur ein Gott in Menschengestalt war, sollte ihr Schicksal von nun an besiegelt sein. Nicht Assuman hatte sie erwählt, sondern Kafur, ein Gott, der sie liebte. Sie fasste sein Geschenk – die geschnitzte Holzfigur – umschloss sie mit beiden Händen und tat einen Schwur: „Ich werde die Gesandte Kafurs sein. Seine Liebe soll mich leiten, dass ich der Welt Kinder schenke, Kinder von einem Manne, der Kafurs Erbe würdig ist.“
Sie zitterte am ganzen Leibe, als sie diese Worte sprach. Beseelt von einem unsterblichen Geist setzte sie ihren Weg fort. Navigieren war nicht ihre Stärke, aber ihre Kenntnisse reichten, um die Richtung zu bestimmen, die zur Küste führte. Sie ging still vor sich hin auf der Suche nach einem Handelsweg, auf dem Pferdekarren fuhren oder Packtiere Zinn oder Wolle transportierten. Sie hoffte, mitgenommen zu werden, um so schneller an einen Hafen zu gelangen. Kafur hatte ihr erzählt, dass die Römer Teile des Landes besetzt hatten. Es wäre für sie von Vorteil, den Römern in die Hände zu fallen. Sie würde sich als römische Aristokratentochter ausgeben. Die Sprache beherrschte sie und ihre edlen Gewänder machten ihre Geschichte glaubhaft. Von einem Überfall würde sie berichten. Einheimische Horden hätten sie von ihren Eltern getrennt. Alle außer sie wären hingerafft worden.
Sie sah an sich hinunter, folgte dem Schwung ihres Kleides und betrachtete ihre bestickten Ärmel. Tatsächlich, zum ersten Mal trug sie Frauenkleider. Zum ersten Mal in ihrem Leben durfte sie sich ganz wie eine Frau fühlen. Sie war so gefangen von ihren Gefühlen, dass sie nicht bemerkte, dass sich zwei Männer von hinten näherten und letzte Schritte zielstrebig auf sie zu machten. Diesmal gab es kein Entkommen. Einer der abgedroschenen Kerle warf sie zu Boden. Sie schrie, aber die Männer lachten grunzend und rissen ihr das Gewand vom Leibe. Es waren keine Römer, so viel stand fest. Ein feister, nach ranzigem Fett stinkender Langbart sah sich kurz den Ring an, ließ ihn aber verächtlich stecken, nahm die Figur aus dem Gewand, drehte sie in seinen Händen und warf sie ins nahe Gras. Der Dicke, dessen fauler Geruch mit jedem seiner Atemzüge zu ihr vordrang, hatte sein Knie in ihren Magen gedrückt, sodass ihr Gesicht vor Luftnot bläulich anlief und sie nun heftig nach Erlösung rang. Der Bärtige schob den Dicken beiseite und zog ihr die Schuhe aus und auch ihr Untergewand. Nur ein schlichtes Hemd bekleidete sie noch. Die Männer kramten ihr Diebesgut zusammen, wobei ihnen das lederne Säckchen in die Hände rutschte. Sie öffneten es. Als sie aber nur rötliches Pulver darin entdeckten, warfen sie es achtlos weg und zogen gelassen davon.
VII Die Idee
Siobhan hatte ihre erste böse Lektion als Frau gelernt. Andererseits, einen Jungen hätten sie vielleicht getötet. Sie kauerte auf den Knien und sah sich nach der Figur um, kroch durchs Gras und fand sie nach einer Weile. Ihr Hemd war verdreckt und nass. Ihre Füße schmerzten vor Kälte. Frierend beugte sie sich nieder, um das Säckchen vom Wegrand aufzuheben. Etwas Pulver fiel auf ihr nasses Hemd und färbte es rötlich. Erst erschrak sie, glaubte es sei ihr Blut, doch dann wusste sie gleich, dass Assuman ihr kostbares Purpur mit auf den Weg zu den Göttern gegeben hatte. Schnell verschloss sie das Säckchen in dem Wissen, dass Purpur wertvoll war und sehr begehrt. Wer diesen Farbstoff besaß, stieß bei den Römern auf reichlich Interesse.
Von Weitem sah sie jemanden auf sich zukommen. Der Schreck steckte ihr noch im Blut, sodass sie weglaufen wollte, aber ihre Knie waren vom Kriechen auf dem eisigen Boden so steif geworden, dass sie ihr nicht gehorchten. Wie gelähmt ließ sie Freund oder Feind näher kommen, bis sie erkannte, dass es eine Frau in Lumpen war. Ihre Haare fielen ihr wild durchs Gesicht, sodass sie ihre Augen nicht sehen konnte.
„Mädchen, haben sie dich erwischt? Du blutest, lass mal sehen. Da muss Essig drauf. Damit waschen wir die Wunden, dann binden wir Comfrey drüber.“
Als die Frau zu ihr trat und die Färbung des Hemdes genauer betrachtete, wich sie zurück.
„Du bist nicht von hier. Das Blut! Es ist kein Menschenblut. Wer bist du?“
Die Frau war im Begriff, die Flucht zu ergreifen, da hob Siobhan ihr Hemd, entblößte ihre makellose weiße Brust und bat die Frau zu bleiben.
„Ich bin nicht verletzt. Das Hemd ist gefärbt. Keine Sorge. Ich bin weder ein Ungeheuer noch eine Göttin. Bitte hilf mir.“
Die Frau machte einen Schritt auf sie zu, behielt aber respektvollen Abstand.
„Die beiden Männer haben dich überfallen. War es so?“
„Ja, kennst du sie?“
„Nein. Sie haben es auch bei mir versucht, aber da hab ich ihnen meinen Ausschlag gezeigt.“
Die Frau griff mit einer Hand ihre Haare und legte sie nach hinten über den Kopf. Ihr Gesicht war übersät mit Flecken und Abszessen. Dann öffnete sie ihren Umhang und zeigte ihre vielen Pusteln und Geschwüre am Körper, am Hals und auf der Brust.
„Damit hab ich sie verjagt“, sagte sie mit einem Anflug von Stolz.
„Wieso sprichst du die Sprache der Römer?“, fragte Siobhan bibbernd. Sie hatte viele kranke Männer und Frauen während ihrer Seefahrerjahre gesehen und fürchtete das Weib nicht.
„Ich habe diese schlechte Haut seit meiner Kindheit. Lange probierte ich die Kräuter des Waldes, Blumen und die Säfte der Bäume aus, aber nichts half. Ich lernte viel. Meine Heilkunst sprach sich herum und so warben mich die Römer an, ihren Kranken und Verletzten die Wunden zu versorgen. Da lernte ich ihre Sprache. Als Frau allein unterwegs sprichst du besser Latein, gibt es doch kaum ein Gebiet, das die Römer nicht besetzt haben. Ich bin auf dem Weg in den Süden, ans große Meer. Es soll Salz darin sein, viel Salz, und ich glaube fest, ein Bad darin wird mir helfen, meine Haut zu reinigen. Ich möchte auch die Sonne dort sehen. Es heißt,