Die sieben Todsünden. Corey Taylor
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Als ich mir wieder die Sachen anzog und sah, wie sich eine Menschentraube vor dem Bett bildete, kam mir eine außergewöhnlich gute Idee. Vielleicht lag es an dem Alk, der noch durch meinen Kreislauf pulsierte. Vielleicht lag es daran, dass sich meine Augen von dem grellen Licht erholten, das plötzlich angegangen war. Aber vielleicht kam mir diese brillante Idee auch nur in den Sinn, weil ich diesen Ärschen eins auswischen wollte – und zwar in der Sprache, die sie verstehen. Keiner konnte mich von meinem Vorhaben abhalten. Es war ganz simpel: Ich wollte vom Bett aus in die Menge zum Stagediving springen und war mir sicher, dass sie mich auf den Händen durch die Tür und dann die Treppe runter tragen würden, bis ich endlich an der Bar in der Küche anlangen würde, um mir einen Drink zu mixen.
So ein Einfall grenzt an absolute Genialität. Warum sollte das nicht funktionieren? Schon damals kannte mich jeder als Corey Fucking Taylor. Ja, und dann zog ich mir die Hosen an (so höflich war ich noch), hüpfte aufs Bett und sprang … und knallte mit dem Kopf an einen Deckenventilator, den ich entweder vergessen oder wegen meines versoffenen Tunnelblicks überhaupt nicht gesehen hatte. Ich schwöre euch, ohne den Witz damit verstärken oder mich als Schwächling darstellen zu wollen, dass es der härteste Deckenventilator war, den die Menschheit je gesehen hat. Und, liebe Leute, ich spreche hier vom Industriestandard! Innerhalb von zwei Sekunden bekam ich drei Mal einen verpasst: Ein Mal auf die Stirn, ein weiteres Mal auf beide Augen und zum Schluss ratschte das Ding noch über meine Nasenspitze. Der Ventilator schlitzte meine Fresse auf und vermachte mir zwei Veilchen. In der einen Sekunde wirkte ich noch wie der coolste Typ auf der Szene und in der nächsten lag ich auf dem Rücken, alle viere von mir gestreckt, und überlegte, was zum Teufel gerade passiert war. Das alles lief unglaublich schnell ab. Ich kam erst zur Besinnung, als mir jemand wie durch einen Schleier hindurch aufhalf. Gott scheint meine Freunde zu lieben, denn keiner verriet mir, wie beschissen mein Gesicht aussah und dass es Ähnlichkeit mit einem gewissen Rocky Balboa hatte. Ich mischte mich unter die Menge und sah erst eine Stunde später in den Badezimmerspiegel. Meine Güte, ich hätte ein Schild mit der Aufschrift „Möchten sie ein Bild mit dem Party-Zombie machen?“ um den Hals tragen können.
Ich erzähle diese Geschichte nicht, um zu prahlen oder ein falsches Image von mir in die Welt zu setzen. Für die folgende Sammlung an Einsichten und aufrührerischen Gedanken ist sie einfach sehr wichtig. Schon von Beginn an soll klar sein, dass ich weiß, wovon ich rede, wenn ich über „Sünden“ schreibe. Hier spricht kein Novize – auch die Jahrzehnte haben meine Hände nicht rein gewaschen. Denk nur mal drüber nach: In einer Nacht – verdammt, in nur fünf Stunden – habe ich jede einzelne der so genannten Sieben Todsünden abgerissen. Wie ein tollwütiger Baseballspieler bin ich durch das unmoralische Spektrum aus Völlerei, Habgier, Lust, Trägheit, Zorn, Neid, Eitelkei gerannt. Bis zum heutigen Tag erinnere ich mich mit Freude und einem wissenden Lächeln an diese verblüffende Verkettung von Ereignissen.
Was mich wieder zu der Idee hinter diesem Buch bringt, die ich wie eine Sommerliebschaft in den Armen gehalten habe. Nach der Einleitung und einem Räuspern bitte ich um eure Aufmerksamkeit, die ich auf eine kleine Tatsache lenke, die niemand wahrhaben will, sei es aus Gewohnheit oder einem schrägen Schuldbewusstsein. Ich weiß, dass ihr der Wahrheit begegnen, einen Schuss in die empfindlichen Stellen des Gehirns vertragen könnt. Ich glaube an euch, und deshalb vertraut mir:
Die Sieben Todsünden sind totaler Blödsinn:
Alle noch da? Oder ist vielleicht jemand zu Scientology konvertiert, weil ich dieses kleine Nugget der Realität in die Luft warf? Nein, dann können wir ja fortfahren.
Jahrhundertelang wehten diese so genannten „Waffen gegen die Moral“ wie beängstigende Fahnen vor den Augen von zigmillionen Menschen. Sie wurden von der Rechten oder den Verteidigern des Glaubens als legitimierende Drohmittel eingesetzt, um damit die Massen vom eigentlich normalen Freidenkertum abzuhalten, Menschen mit einem offenen Bewusstsein durch den feuergestählten Daumen zu unterdrücken. Wenn die Welt auf- und abspringt und ein wenig zu viel feiert, lassen diese Spaß-hassenden Arschgesichter die goldenen Kontrollregeln auf uns los, um uns von dem Partyzug zu stoßen. Ich werde nie verstehen, warum sich die meisten Menschen nicht einfach um die eigenen Angelegenheiten scheren, aber eins ist mir klar: In neun von zehn Fällen ist die Sünde eine Frage der Auslegung, und meiner Ansicht nach ist der Begriff Sünde nur gerechtfertigt, wenn du andere Menschen verletzt. So, und wenn niemand verletzt wurde – wie sollst du dann gesündigt haben?
Klar, die Sieben Todsünden können Schmerz und Bosheit in uns auslösen – sogar in den edelsten Charakteren. Sie können die größten Denker und die unbeirrbarsten Seelen überwältigen. Aber sie können ein Individuum auch beeinflussen und zu den ungewöhnlichsten Taten in den entscheidenden Momenten des Lebens befähigen. Sie als vernichtende Waffen zu bezeichnen, und uns alle damit zum schlimmsten Abschaum in der Menschheitsgeschichte zu erklären, ist ein Hohn der Gerechtigkeit. Wir alle erleben diese Gefühle und müssen kämpfen, um in einer Welt der Raubtiere Höflichkeit, Rechtschaffenheit und Anstand zu bewahren. Aber es gibt Zeiten, in denen es zu unseren Menschenrechten gehört, sich von diesen „Sünden“ wie eine warme Welle in der Karibik umspülen zu lassen. Es gibt Zeiten, und ich sage das mit Nachdruck, in denen wir uns als Spezies ungezwungen und lustvoll den Emotionen hingeben sollten, die mit den „Sünden“ Hand in Hand gehen. Um Himmels willen, wir sind verflucht noch mal einfach nur Menschen: Wir sind nicht perfekt! Es sind unsere Eigenarten, die den Charakter und die Individualität ausmachen. Ich weiß nicht, ob ich persönlich einem Menschen trauen könnte, in dessen Keller nicht eine Leiche liegt. Wir werden dadurch definiert, dass wir uns würdevoll über unsere Niederträchtigkeit erheben. Aber wir werden mit Sicherheit zu besseren Menschen, wenn wir diesen Weg in die Tat umsetzen.
Es steht geschrieben: „Der, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Genau hier kann ich mit meiner Argumentation andocken. Wir sind nicht an unserem Menschsein schuldig – wir waren noch nie schuld! Ein Problem taucht auf, wenn wir zu Karikaturen dieser beschissenen Regeln werden, vergleichbar mit dem Politiker, der die Familienwerte lobpreist, aber zurücktreten muss, weil er eine unbedeutende, scharfe Nummer mit einer Nutte im Erfrischungsraum eines Truck-Stops geschoben hat. Oder der Filmstar, der dem trügerischen Glauben erlegen ist, dass er allein wegen seiner markanten, sich schön abzeichnenden Wangenknochen über den ungeläuterten Menschen steht. Nein, diese Typen sind keine Sünder: Es sind dumme Scheißer.
Ich versuche euch nicht zu retten, sondern predige Mäßigung. Einige Motherfucker unter euch sind tatsächlich verrückt. Ich habe überhaupt keine Bedenken, darauf hinzuweisen. Aber was ist, wenn du gerne fickst? Wen interessiert es, ob jemand den Besitz von Geld genießt, gerne ein gutes Essen verspeist, seinen Gefühlen freien Lauf lässt oder seine habgierige Natur auslebt, um sich zu ungeahnten Höhen empor zu schwingen? Wen juckt es, wenn du an deinem einzigen freien Tag einfach nur pennen willst – oder der Meinung bist, du wärst das schärfste, heißeste, geilste, was die Sexwelt zu bieten hat?
Wer kümmert sich um so was? Mich geht das alles nichts an. Es ist deine freie Entscheidung. Wenn du damit klar kommst und niemanden verletzt, kann ich dir von ganzem Herzen gratulieren. Zumindest hältst du keine Vorlesungen vor irgendwelchen verlorenen Partyfreaks, in denen du erklärst, wie sie die Schnellstraße zum Himmel erreichen können. Der einzige Sinn dieser angeblichen Sünden liegt in der Kontrollfunktion.
Denk mal drüber nach: Vor tausend Jahren lebten die Aristokraten beispiellos exzessiv. Eigentlich hätten