Gesammelte Werke. Aristoteles
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Betrachtet man die Sache mehr vom naturphilosophischen Standpunkt, so erscheint ein tugendhafter Freund für einen Tugendhaften als von Natur begehrenswert. Wir haben gesagt, daß das von Natur Gute von selbst für den Tugendhaften gut und genußreich ist. Das Leben aber bestimmt man bei den Sinnenwesen als Vermögen der Wahrnehmung, beim Menschen als Vermögen der Wahrnehmung und des Denkens. Das Vermögen wird nun auf die Tätigkeit zurückgeführt, die das eigentlich Wertvolle und Maßgebende ist, und so muß denn als eigentliches Leben das Wahrnehmen oder Denken erscheinen. Das Leben aber gehört zu dem an sich Guten und Genußreichen, sofern es bestimmt und umschrieben ist, und die Bestimmtheit zur Natur des Guten gehört – was aber von Natur gut ist, das ist es auch für den Tugendhaften –, und eben darum findet jeder das Leben süß und angenehm. Man darf hier aber an kein lasterhaftes, verdorbenes oder mit Unlust verbundenes Leben denken; denn ein solches ist ebenso wie das, was ihm anhaftet, unbestimmt und unumschrieben, wie das im folgenden, wo von der Unlust die Rede sein wird, genauer erklärt werden soll. Wenn nun das Leben an sich gut und angenehm ist – wie auch daraus hervorgeht, daß alle nach ihm begehren, und am meisten die Tugendhaften und Glücklichen, weil für sie das Leben am begehrenswertesten und das Lebenslos am glücklichsten ist –, wenn ferner der Sehende wahrnimmt, daß er sieht, der Hörende, daß er hört, der Gehende, daß er geht, und so im übrigen immer etwas ist, womit wir unsere Tätigkeit wahrnehmen, so daß wir also wahrnehmen dürften, daß wir wahrnehmen, und denken, daß wir denken, was wieder so viel ist als Wahrnehmen oder Denken, daß wir sind – Sein hieß uns ja Wahrnehmen oder Denken –; wenn ferner die Wahrnehmung, daß man lebt, etwas an sich Angenehmes (1170b) ist, sofern das Leben von Natur ein Gut und es angenehm ist, das Gute in sich vorhanden zu fühlen; wenn außerdem noch das Leben begehrenswert ist, besonders für den Guten, weil das Sein für ihn gut und angenehm ist, sofern das Bewußtsein des an sich Guten ihm Freude macht; wenn endlich der Tugendhafte wie zu sich selbst ebenso auch zum Freunde sich verhält, der ja sein anderes Ich ist, – nun denn, so wird, wie das eigene Dasein von jedem begehrt wird, ebenso oder ähnlich das Dasein des Freundes von ihm begehrt. Das Dasein aber erschien als begehrenswert wegen des Bewußtseins der eigenen Güte, das wir aus ihm schöpfen, ein Bewußtsein, das an sich eine Quelle der Lust ist. Mithin bedarf es auch eines Bewußtseins vom Dasein des Freundes, und ein solches wird vermittelt durch das Zusammenleben und den Austausch der Worte und Gedanken. In diesem Sinne ist ja doch das Zusammenleben bei Menschen zu verstehen, nicht wie beim lieben Vieh vom Weiden auf einer Trift. Wenn also für den Glücklichen das Dasein an sich begehrenswert ist, weil es von Natur ein Gut und eine Lust ist, und ähnliches von dem des Freundes gilt, so muß auch der Freund zu den begehrenswerten Dingen zählen. Was der Glückliche aber begehrt, das muß er haben, sonst geht ihm in diesem Punkte etwas ab. Mithin wird man, um glücklich zu sein, tugendhafte Freunde haben müssen.
Zehntes Kapitel.
Soll man sich also möglichst viele Freunde262 machen, oder hat das, was für das Gastverhältnis wohl mit Recht empfohlen wird: »weder bei vielen Gast noch bei niemanden«263, auch bei der Freundschaft seine Richtigkeit, so daß man also weder gar keine Freunde noch übermäßig viele haben soll? Bei den Freunden, die man des Nutzens wegen hat, dürfte das Gesagte nur zu sehr angebracht sein. Denn vielen Freunden Gegendienste zu leisten ist beschwerlich, und es zu vollbringen, ist das Leben nicht lang genug. Daher sind mehr Freunde, als für das eigene Leben genügen, überflüssig und der Ausübung der Tugend hinderlich264, und so bedarf man ihrer nicht. Auch der Freunde, die man um der Lust willen hat, braucht man nur wenige, wie auch bei der Speise wenig Gewürz hinreicht.
Was aber die Tugendhaften betrifft, so kann man wirklich im Zweifel sein, ob man sich deren eine möglichst große Menge zu Freunden machen soll, oder ob es auch für die Zahl der Freunde eine Grenze gibt, so gut wie für die der Bürger einer Stadt. Es können ja so wenig zehn Bürger schon eine Stadtgemeinde bilden, als hunderttausend noch als Stadtgemeinde gelten. Die Anzahl kann hier vielleicht durch keine festen Ziffern ausgedrückt werden, sondern jede Zahl möchte zulässig sein, die zwischen zwei bestimmte Grenzen fällt. So ist auch die Zahl der (1171a) Freunde begrenzt, und ihr Maximum wird sich wohl danach bestimmen, mit wie vielen man zusammenleben kann. Hierin schien uns ja die Freundschaft recht eigentlich zum Ausdruck zu kommen; es ist aber offenbar ein Ding der Unmöglichkeit, mit vielen zusammen zu leben und sich unter sie zu teilen.
Ferner müßten die vielen Freunde wieder unter einander Freunde sein, wenn alle mit einander leben sollen, was sich schwerlich bei vielen findet.
Endlich ist es schwer, mit vielen Freud und Leid persönlich zu teilen; denn es könnte sich leicht gleichzeitig treffen, daß man mit dem einen froh und mit dem anderen traurig sein müßte.
Es dürfte sich also empfehlen, daß man nicht darauf aus ist, möglichst viele Freunde zu erwerben, sondern nur so viele, als zum gemeinsamen Leben genügen. Es ist ja auch allem Anscheine nach nicht möglich, mit vielen innig befreundet zu sein. Eben darum kann man auch nicht in mehrere verliebt sein. Denn eine solche Verliebtheit will ein Übermaß der Freundschaft sein, das nur gegen einen möglich ist, und so ist auch eine innige Freundschaft nur mit wenigen möglich.
So scheint es sich denn auch im wirklichen Leben zu verhalten. Freunde im Sinne jener hetäristischen Freundschaft, die gleichsam ein Bund fürs Leben ist, kommen nicht viele vor, und die Freundschaften, von denen die Dichter singen, haben immer nur zwischen zweien bestanden. Die viele Freunde haben und mit allen vertraut tun, sind eigentlich niemandes Freunde, sofern es nicht blos ein Verhältnis wie zwischen Mitbürgern sein soll, und man bezeichnet ihr Verhalten als Liebedienerei. Nur im Sinne der Freundschaft unter Mitbürgern kann man ohne Liebedienerei und sogar im besten Einklang mit den Forderungen der Ehrenhaftigkeit vielen Freund sein. Dagegen ist eine Freundschaft, die den sittlichen Vorzügen und der Person selber gilt, gegen viele nicht möglich, und man muß sich schon glücklich schätzen, wenn man auch nur wenige solche Freunde findet.
Elftes Kapitel.