Gesammelte Werke. Aristoteles
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Bedarf man aber der Freunde mehr im Glück oder im Unglück? – In beiden Lagen werden sie gesucht, da die Unglücklichen Hilfe brauchen und die Glücklichen Gesellschafter und solche, denen sie gutes tun können. Denn das ist dem Tugendhaften ein Bedürfnis.
Notwendiger also ist der Besitz von Freunden im Unglück, weil man da die nützlichen Freunde braucht, sittlich schöner aber im Glück, weil man da nach trefflichen Menschen sucht, da es wünschenswerter ist, diesen Wohltaten zu erweisen und mit diesen zu verkehren. Denn die bloße Gegenwart der Freunde ist angenehm, auch im Unglück, da die Bekümmerten sich erleichtert fühlen, wenn die Freunde ihren Schmerz teilen. Daher könnte man auch zweifeln, ob die Freunde gleichsam die Last mittragen, oder ob vielmehr ihre angenehme Gegenwart und die Überzeugung von ihrer Teilnahme den Schmerz verringert. Ob nun die Erleichterung daher rührt oder einen anderen Grund hat, stehe dahin; genug, daß sie tatsächlich eintritt. Doch dürfte die Wirkung, die von der Gegenwart der Freunde ausgeht, gemischter Art sein. Einerseits ist schon der Anblick der Freunde, besonders für den von einem (1171b) Mißgeschick Betroffenen, erfreulich und angenehm und eine Art Gegenmittel gegen den Kummer. Denn der Freund tröstet uns durch Miene und Wort, wenn er das Geschick dazu hat, da er unseren Charakter kennt und weiß, was uns angenehm und unangenehm berührt. Andererseits aber muß es uns weh tun, wenn wir den Freund über unsere Mißgeschicke bekümmert sehen. Niemand will gern einem Menschen, den er lieb hat, Anlaß geben, sich zu betrüben. Darum scheuen es mannhafte Naturen, den Freund zum Teilnehmer ihres Kummers zu machen, und wenn sie nicht sehen, daß sie durch eine kleine Betrübnis des anderen einer eigenen großen Betrübnis entledigt werden, so ertragen sie es nicht265, daß die Freunde ihretwegen Leid haben sollen, und überhaupt suchen sie weinerliche Naturen von sich fern zu halten, weil sie selbst nicht zum Weinen und Klagen veranlagt sind. Weiber jedoch und weibische Männer haben Freude an dem Mitgeseufze anderer und lieben sie als wahre Freunde und mitleidige Seelen. Man soll sich aber gewiß in allem den besseren Menschen zum Vorbild nehmen. Im Glück dagegen verschafft uns die Gegenwart der Freunde einen angenehmen Umgang und gibt uns das Bewußtsein, daß sie an dem Guten, was wir besitzen, ihre Freude haben.
Deshalb scheint sich die Regel zu empfehlen, daß man die Freunde zur Teilnahme an seinem Glücke bereitwillig und ungesäumt herbeirufe, da es sittlich schön ist, wohltätig zu sein, jedoch nur zögernd zur Teilnahme an seinen Mißgeschicken, da man den Freunden von den Übeln so wenig als möglich mitteilen soll, daher der Ausspruch:
»Genug, daß ich unglücklich bin.«266
Am ersten noch darf man sie in solchen Fällen in Anspruch nehmen, wo sie uns mit geringer Mühe einen großen Dienst erweisen können. Dagegen dürfte es schicklich sein, ungerufen und ungesäumt zu den Freunden hinzugehen, wenn sie von Mißgeschicken betroffen worden sind – denn es ist Freundespflicht, wohl zu tun, besonders denen, die in Not sind und uns nicht darum gebeten haben, was für beide Teile würdiger und seliger ist –. Sind aber unsere Freunde in glücklichen Umständen, so gehe man gern zu ihnen, wenn man ihnen dienlich sein kann; denn dazu hat man den Freund; aber nur ungern und langsam, wenn es gilt, Wohltat anzunehmen. Denn geflissentlich Nutzen von anderen ziehen, ist nicht schön. Den Schein der Sprödigkeit muß man aber freilich vermeiden, wenn man Freundeshilfe ablehnt; denn es kommen Fälle vor, wo man solchen Schein wirklich auf sich lädt.
Die Gegenwart der Freunde erscheint also in allen Lebenslagen als begehrenswert.
Zwölftes Kapitel.
Ist nun nicht, wie verliebten Personen der gegenseitige Anblick am liebsten ist und sie diese Wahrnehmung jeder anderen vorziehen, sofern die sinnliche Liebe wesentlich durch sie besteht und entsteht, so auch für Freunde das liebste, zusammen zu leben?
Freundschaft ist ja doch Gemeinschaft.
Auch verhält man sich, wie zu sich selbst, so zum Freunde. Nun ist uns bezüglich unser selbst die Wahrnehmung des Daseins angenehm, mithin auch in bezug auf den Freund. Die Tätigkeit aber, aus der man des anderen Dasein erkennt, vollzieht sich im Zusammenleben, so daß das Streben der Freunde naturgemäß hierauf (1172a) gerichtet ist.
Endlich will jeder was immer ihm als eigentliches Sein oder als des Lebens Endzweck gilt, in Gemeinschaft mit den Freunden treiben. Daher die einen mit dem Freunde trinken, die anderen mit ihm Würfel spielen, wieder andere mit ihm gymnastische Übungen machen oder jagen oder philosophieren, kurz, jeder will das gemeinsam mit dem Freunde treiben, was er von allen Dingen am liebsten hat. Man will ja mit ihm zusammenleben, und darum treibt und teilt man mit ihm dasjenige, was man unter Leben und Zusammenleben versteht.
Daher wird die Freundschaft unter Schlechten eine Gemeinschaft im Bösen. Leichtlebig wie sie sind, nimmt der eine das Schlechte von dem anderen an, und so werden sie beide gleich böse. Dagegen die unter Guten wird eine Gemeinschaft im Guten. Von Tag zu Tag gewinnt sie durch den Umgang an sittlichem Gehalt, und der Fortschritt wird hier durch gemeinsame Tugendübung nicht minder als durch gegenseitige Zurechtweisung herbeigeführt. Jeder nimmt von den ihm zusagenden Eigenschaften des anderen einen Abdruck in sich auf, daher das Dichterwort:
»Edeles lernst du von Edeln.«267
Soviel sei denn von der Freundschaft gesagt. Hieran mag sich die Erörterung von der Lust anschließen.
Zehntes Buch.
Erstes Kapitel.
Hiernach ist die Erörterung der Lust268 an der Reihe. Unser Geschlecht hat nichts so eigen als die Lust, daher man die Jünglinge in der Art erzieht, daß man sie wie mit einem doppelten Steuer269 durch Lust und Unlust lenkt. Auch für die sittliche Tugend scheint es von der allergrößten Wichtigkeit zu sein, daß man den richtigen Dingen Liebe und Haß entgegenbringt270. Denn diese Gefühle erstrecken ihren Einfluß auf alle Lebensverhältnisse, da sie für die Tugend und die Glückseligkeit so wichtig und bedeutsam sind. Man begehrt ja was Lust gewährt, und flieht was schmerzlich ist. Einen so weittragenden Gegenstand darf man daher gewiß nicht mit Stillschweigen übergehen, besonders da über ihn großer Streit der Meinungen herrscht.
Die einen nämlich setzen die Lust dem höchsten Gute gleich, die anderen behaupten umgekehrt, sie sei ganz und gar schlecht, mögen sie das nun wirklich glauben, oder mögen sie es im praktischen Interesse für besser halten, die Lust, wenn sie es auch nicht ist, als schlecht hinzustellen, da die Mehrzahl zu ihr hinneige und den Lüsten fröhne, weshalb man sie nach der entgegengesetzten Seite leiten müsse, um sie so in die rechte Mitte zu bringen.
Indessen dürfte dieses schwerlich das Richtige sein. Wo Gefühle und Handlungen ins Spiel kommen, haben Worte weniger Überzeugungskraft als Werke. Wenn sie nun mit dem, was die Leute an einem beobachten, nicht übereinstimmen,