Die Schatzinsel. Robert Louis Stevenson
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»Meint Ihr etwa mich, Sir?«, fragte der Doktor. Der Rüpel fluchte erneut und antwortete: ja natürlich, wen denn sonst. »Dann habe ich Euch nur das eine zu sagen«, erwiderte der Doktor: »Wenn Ihr mit dem Rum so weitermacht, gibt es bald einen dreckigen Erzhalunken weniger auf der Welt!«
Die Wut des alten Kerls war fürchterlich. Er sprang auf, zog ein Klappmesser, wie Seeleute es tragen, holte die Klinge hervor, rollte die geöffnete Waffe in der Hand hin und her und drohte, den Doktor an die Wand zu spießen.
Doktor Livesey machte keinerlei Bewegung. Wie schon zuvor sprach er über die Schulter mit dem Kapitän, und im gleichen Ton. Zwar hob er die Stimme etwas an, so dass alle im Raum ihn hörten, aber sie klang vollkommen ruhig und fest, als er entgegnete:
»Wenn Ihr das Messer nicht augenblicklich wegsteckt, dann werdet Ihr – auf meine Ehre – beim nächsten Gerichtstermin hängen.«
Eine Weile lieferten sich die beiden noch ein Blickgefecht, aber es dauerte nicht lange, und der Kapitän strich die Segel, steckte sein Messer in die Tasche und setzte sich, knurrend wie ein geprügelter Hund, wieder auf seinen Stuhl.
»Ach, noch eins, Sir«, fuhr der Doktor fort. »Da ich nun weiß, dass sich in meinem Bezirk solch ein Bursche befindet, werde ich künftig genau verfolgen, was Ihr tut, und zwar Tag und Nacht. Ich bin nicht nur Arzt, sondern auch Amtsperson. Sollte mir die leiseste Klage über Euch zu Ohren gelangen – und sei es nur wegen einer Flegelei wie heute abend –, dann, verlasst Euch darauf, treffe ich Maßnahmen, dass Ihr hier wegkommt. So, ich hoffe, das war deutlich genug.«
Kurze Zeit später traf Doktor Liveseys Pferd vor dem Gasthof ein, und er ritt davon. Der Kapitän aber verhielt sich an diesem Abend friedlich – und auch an vielen Abenden danach.
Kapitel 2
Der Schwarze Hund taucht auf und verschwindet wieder
Kurz danach begab sich das erste jener rätselhaften Ereignisse, die uns schließlich von dem Kapitän befreiten, nicht jedoch, wie sich bald zeigen sollte, von seinen Angelegenheiten. Ein bitterkalter Winter brach herein mit langen, harten Frostwochen und schweren Stürmen, und es war schon absehbar, dass für meinen armen Vater wenig Hoffnung bestand, den Frühling zu erleben. Er wurde täglich schwächer, und meine Mutter und ich mussten den gesamten Wirtshausbetrieb allein besorgen. Dies bedeutete so viel Arbeit, dass unser unliebsamer Gast in unserer Aufmerksamkeit nicht mehr an erster Stelle stand.
Es geschah an einem Januarmorgen in der Frühe, an einem schneidend kalten Tag. Grau hing die Bucht voll Rauhreif; eine schwache Brandung klatschte matt gegen die Steine; die Sonne stand noch tief, lugte gerade über die Spitzen der Berge und leuchtete weit aufs Meer hinaus. Der Kapitän war zeitiger als gewöhnlich zum Strand hinabgewandert, das Messingfernrohr unterm Arm, den Hut im Genick, und unter den breiten Schößen seines alten blauen Rocks baumelte das Entermesser. In langen Schritten strebte er dem Ufer zu, und sein Atemdunst, ich erinnere mich genau, zog wie eine Rauchfahne hinter ihm her. Schon bog er um den großen Felsen. Das letzte, was ich von ihm hörte, war ein lautes Schnauben der Entrüstung. Seine Gedanken kreisten wohl immer noch um Doktor Livesey.
Während nun meine Mutter noch oben bei Vater war, deckte ich schon einmal den Tisch für den Kapitän, der stets erst nach seinem morgendlichen Gang zu frühstücken pflegte. Plötzlich öffnete sich die Tür der Gaststube, und ein Mann trat herein, den ich in der Gegend noch nie gesehen hatte: ein käsebleicher Kerl, dem an der linken Hand zwei Finger fehlten. Er trug zwar ein Entermesser, machte insgesamt aber keinen sehr kampfeslustigen Eindruck. Auf Seeleute hatte ich ja nun schon geraume Zeit stets ein wachsames Auge, auf ein- wie auf zweibeinige, aber aus diesem, so meine Erinnerung, wurde ich zunächst nicht recht schlau. Er wirkte nicht seemännisch, und trotzdem, irgendwie roch er nach Meer.
Ich fragte ihn, was er wünsche, und er bestellte ein Glas Rum. Als ich aber hinausgehen wollte, um es zu holen, setzte er sich auf einen Tisch und winkte mich heran. Ich blieb stehen, wo ich war, das Serviertuch überm Arm.
»Komm mal her, Jungchen«, sagte er; »komm mal’n bisschen näher.«
Ich trat einen Schritt auf ihn zu.
»Ist das der Tisch für meinen lieben Freund Bill?«, fragte er mit leicht boshaftem Grinsen.
Ich erwiderte, dass ich seinen lieben Freund Bill nicht kennte; und das Gedeck sei für einen Gast, der in unserem Haus wohne, und zu dem wir ›Käpt’n‹ sagten.
»Aha!«, entgegnete der Fremde. »Käpt’n lässt er sich titulieren? Das passt zu ihm; ganz seine Art. Er hat übrigens ’ne Narbe auf einer Backe und ausgesprochen gepflegte Umgangsformen, mein lieber Freund Bill, besonders, wenn er blau ist. So, nun nehmen wir mal an – nur, damit wir hier weiterkommen –, euer Käpt’n hat auch ’ne Narbe auf einer Backe; und nehmen wir weiter an, die Backe, wo er die hat, ist – sagen wir mal – die rechte. Aha – wusst ich’s doch! Also: ist mein lieber Freund Bill grad daheim?«
Nein, er sei gerade draußen unterwegs, beschied ich ihn.
»Und wo lang, Jungchen? Wo lang ist er marschiert?«
Ich wies zu dem Felsen hin. Der Kapitän, berichtete ich, nehme meist den und den Weg und komme gewöhnlich um die und die Zeit wieder zurück. Der Besucher hatte noch mehr Fragen, und ich antwortete. »Ach«, rief er schließlich, »was wird mein lieber Freund Bill sich freuen; wie über einen guten Schnaps!«
Nach allem, was ich vom Kapitän wusste, hielt ich das für eine eher irrige Vermutung – wenn der Fremde sie denn überhaupt ernst meinte. Der Art, wie er dreinschaute, als er die Worte sprach, ließ jedenfalls kaum den Schluss zu, dass er wirklich Angenehmes im Schilde führte. Aber dies war ja nun nicht meine Sache – glaubte ich; außerdem fiel mir nichts ein, das ich hätte unternehmen können. Der Fremde stellte sich einstweilen dicht hinter die Wirtshaustür und spähte um die Ecke wie die Katze nach der Maus. Einmal wollte ich kurz auf die Straße, um selber Ausschau zu halten, aber da rief er mich sofort zurück. Als ich für seinen Geschmack nicht schnell genug parierte, nahm sein schwammiges Gesicht wahrhaft grässliche Züge an, und er kommandierte mich mit einem Fluch herein, der mich zusammenzucken ließ. Kaum war ich drinnen, gab er sich wieder wie zuvor – halb schmeichlerisch, halb spöttisch –, patschte mir auf die Schulter, sagte, ich sei ein guter Junge, so richtig sympathisch. »Ich hab ja selbst ’nen Sohn«, erzählte er. »Sieht dir übrigens kolossal ähnlich, wie ein Ei dem anderen. Bin auch mächtig stolz auf ihn. Doch bei aller Liebe, eins brauchen Jungen unbedingt: Disziplin, Jungchen, Disziplin. Wenn du mit Bill gesegelt wärst, dann hättest du die schon gelernt, glaub’s mir. Das geht doch nicht, dass man einem was zweimal befehlen muss! Solche Sachen gab’s nicht bei Bill und auch nicht bei denen, die mit ihm gefahren sind. Aber Moment, da kommt er ja! Natürlich, das ist er, mein lieber Freund Bill, mit ’nem Fernglas unterm Arm. Der gute alte Knabe. Nee, bin ich froh! Jetzt komm, Jungchen, wir beide, du und ich, wir gehen mal flott wieder in die Schankstube, Jungchen, und da bereiten wir dem Bill ’ne kleine Überraschung. Der gute alte Knabe, nee, bin ich froh, also wirklich!«
Noch während er dies sagte, drückte sich der Fremde rückwärts in die Schankstube. Ich musste ihm folgen und mich hinter ihn in die Ecke stellen, so dass uns beide nun die offene Tür verdeckte. Mir war, man kann sich’s denken, äußerst unbehaglich und beklommen zumute, und meine Angst wurde nicht eben geringer, als ich merkte, dass auch der Fremde deutliche Anzeichen von Furcht zeigte. Er rückte den Griff seines Entermessers zurecht und lockerte die Klinge in der Scheide, und die ganze Zeit, während wir da warteten, schluckte er immerzu; er hatte wohl, wie man früher sagte, einen Kloß im Hals.
Endlich