Die Schatzinsel. Robert Louis Stevenson
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Schatzinsel - Robert Louis Stevenson страница 6
Er kam am nächsten Morgen die Treppe herunter, natürlich völlig unberührt von dem, was um ihn herum geschah, und nahm seine Mahlzeiten wie gewöhnlich. Allerdings aß er wenig, dafür sprach er dem Rum zu, und zwar leider noch mehr als üblich. Ja, er ging so weit, sich an der Theke selbst zu bedienen, dabei derart finster dreinschauend und bedrohlich schnaubend, dass niemand ihn zu hindern wagte. Am Tag vor dem Begräbnis war er so betrunken wie eh und je. Es schockierte uns, dass er im Trauerhaus unbekümmert sein hässliches altes Seemannslied sang. Andererseits fürchteten wir angesichts seiner Schwäche um sein Leben. Auf den Doktor konnten wir nicht zählen; er war kurz nach dem Tode meines Vaters plötzlich zu einem viele Meilen entfernt wohnenden Kranken gerufen worden, was ihn eine Weile von uns fernhielt. Der Kapitän, ich sagte es schon, wirkte schwach, ja, er schien uns eher ständig schwächer zu werden als sich zu erholen. Er kletterte mühsam die Treppe hinab und hinauf, schleppte sich von der Gaststube in den Schankraum und wieder zurück; manchmal steckte er die Nase aus der Tür, um Seeluft zu riechen. Bei allen Gängen stützte er sich an der Wand ab und atmete schwer und schnell, als müsste er einen steilen Berg erklimmen. Mich sprach er nicht mehr persönlich an, verkniff sich die früheren Vertraulichkeiten; seine Bekenntnisse von neulich hatte er, vermute ich heute, vergessen, oder doch fast. Freilich neigte er jetzt noch mehr als früher zu jähen Stimmungswechseln und, soweit es seine Schwäche erlaubte, zu heftigen Ausbrüchen. Ferner hatte er inzwischen die beunruhigende Angewohnheit, im Rausch sein Entermesser blank zu ziehen und es vor sich auf den Tisch zu legen. Insgesamt aber schenkte er den Leuten um sich herum weniger Beachtung und schien ganz in seine Gedanken versunken, ja irgendwie geistesabwesend. Einmal etwa stimmte er zu unserem äußersten Erstaunen eine andere Melodie an, eine Art ländliches Liebeslied, das er in seiner Jugend gelernt haben mochte, ehe er dem Ruf der See folgte.
So lagen die Dinge bis zum Tag nach dem Begräbnis, einem Tag mit rauhem, frostigem und nebligem Wetter. Es war gegen drei Uhr, als ich einen Augenblick vor die Tür hinaustrat, voll trauriger Gedanken an meinen toten Vater. Da sah ich eine Gestalt auf der Straße, die langsam näher kam. Der Mann war offensichtlich blind: er tastete mit einem Stock vor sich her und trug eine breite grüne Blende über Augen und Nase. Er ging gebeugt, wohl vor Alter und Schwäche, und hatte einen alten, zerschlissenen Seemannsmantel an, mit einer Kapuze, die ihn geradezu bucklig erscheinen ließ. In meinem ganzen Leben ist mir keine furchterregendere Erscheinung begegnet. Er hatte schon fast das Wirtshaus erreicht, als er stehen blieb und in einem seltsamen Singsang die leere Luft vor sich anredete:
»Würde wohl ein freundlicher Mensch einem armen blinden Mann, der sein kostbares Augenlicht bei der glorreichen Verteidigung seines englischen Vaterlandes – Gott segne König Georg! – verloren hat, mitteilen, wo und vielleicht auch in welcher Gegend er sich jetzt befindet?«
»Ihr seid vor dem Gasthof Zum Admiral Benbow in Black Hill Cove, guter Mann«, antwortete ich.
»Da höre ich eine Stimme«, sagte er, »eine junge Stimme. Gebt Ihr mir wohl bitte die Hand, mein lieber junger Freund, und führt mich hinein?«
Ich hielt ihm meine Hand hin – und sofort umklammerte das fürchterliche, augenlose, zuvor so sanftzüngig redende Wesen sie mit solcher Heftigkeit, dass sie feststeckte wie in einem Schraubstock. Von gewaltigem Schrecken gepackt, suchte ich mich frei zu winden, aber mit einer einzigen Armbewegung zog mich der Blinde dicht an sich.
»So, mein Junge«, sagte er, »und jetzt führst du mich zum Käpt’n.«
»Sir«, rief ich, »auf mein Wort, das trau ich mich nicht!«
»Ach?«, höhnte er, »Wenn’s weiter nichts ist! Bring mich sofort rein, oder ich brech dir den Arm.«
Und er setzte zu einer Drehung an, die mich aufschreien ließ.
»Sir«, sagte ich, »es ist um Euretwillen, versteht doch. Der Käpt’n hat richtige Zustände in letzter Zeit. Er sitzt da mit gezogenem Entermesser. Neulich war ein anderer Gentleman –«
»Los, komm jetzt, marsch«, unterbrach er mich. Nie habe ich je eine so grausame, so kalte, so unheimliche Stimme gehört wie die jenes Blinden. Sie schüchterte mich stärker ein als der Schmerz, und ich gehorchte augenblicklich. Geradewegs ging ich zur Tür und in die Gaststube, wo unser alter kranker Freibeuter saß, beduselt von Rum. Der Blinde blieb mir dicht am Leib, hielt mich fest mit eisernem Griff und stützte sich so schwer auf mich, dass ich unter seinem Gewicht fast zusammenbrach. »Du führst mich jetzt direkt hin zu ihm, und wenn ich nah genug dran bin, dass er mich sieht, rufst du laut: ›He Bill, Besuch – ein Freund von dir!‹ Machst du’s nicht, dann mach ich so« – und er verpasste meinem Arm einen Ruck, dass mir fast die Sinne schwanden. Nun hatte ich die Wahl zwischen zwei Gefahren. Letztlich flößte mir aber der blinde Bettler mehr Furcht ein, und zwar in einem Maße, dass ich die vor dem Käpt’n vergaß. Also öffnete ich die Tür zur Gaststube und rief die befohlenen Worte, wenn auch mit zitternder Stimme.
Der arme Kapitän schaute hoch, und was er da erblickte, trieb ihm auf einen Schlag den Rumrausch aus dem Hirn; nun war er stocknüchtern. Sein Gesicht trug indes weniger den Ausdruck des Schreckens als den einer tödlichen Schwäche. Er wollte sich erheben, hatte aber, wie ich glaube, nicht mehr ganz die Kraft dazu.
»Bleib nur sitzen, Bill«, sagte der Bettler. »Sehen kann ich zwar nicht, aber ich höre, wenn einer nur den Finger krümmt. Geschäft ist Geschäft. So, her mit deiner linken Hand. Komm, Junge, nimm seine linke Hand beim Gelenk und führ sie an meine rechte ran.«
Wir gehorchten beide aufs Wort, und ich sah, wie er aus der Hand, die seinen Stock gehalten hatte, verborgen etwas in die des Käpt’ns legte, welche sich sofort zur Faust schloss.
»Das hätten wir«, sagte der Blinde. Sprach’s, ließ mich los und sprang mit unglaublich flinken und sicheren Schritten aus der Gaststube. Keiner Bewegung fähig, stand ich da und hörte auf das Klopfen seines Stockes, das sich, tapp, tapp, tapp, langsam in der Ferne verlor.
Es dauerte wohl eine Weile, beim Käpt’n und bei mir gleichermaßen, bis wir uns wieder halbwegs gefangen hatten. Schließlich aber war es soweit, fast im gleichen Augenblick. Ich ließ sein Handgelenk los, das ich noch immer umschlossen hielt, und er zog seine Faust zurück, öffnete sie und betrachtete scharf, was darin lag.
»Um zehn!«, rief er. »Sechs Stunden. Da kriegen wir sie schon noch dran.« Und er sprang auf.
Aber kaum dass er stand, taumelte er, griff sich an den Hals, schwankte ein paar Mal hin und her, dann schlug er, das Gesicht voran, mit einem seltsamen Stöhnen der Länge nach zu Boden.
Ich lief sofort zu ihm und rief meine Mutter. Aber alle Eile war vergebens. Ein donnergewaltiger Schlaganfall hatte den Kapitän zu Tode gebracht. Es mag merkwürdig sein und kaum zu verstehen: ich hatte den Mann gewiss nie gemocht, bestenfalls in letzter Zeit etwas Mitleid für ihn empfunden. Aber als ich ihn nun tot daliegen sah, brach ich in einen Strom von Tränen aus. Jetzt musste ich schon zum zweiten Male den Tod eines Menschen erleben, und meine Trauer um den ersten war noch frisch in meinem Herzen.
Kapitel 4
Die Seemannskiste
Natürlich erzählte ich meiner Mutter jetzt schleunigst alles, was ich wusste und was ich ihr vielleicht längst hätte erzählen sollen. Unvermittelt befanden wir uns in einer schwierigen und gefährlichen Lage. Es ging um die Hinterlassenschaft des Hausgastes. Ein Teil seines Geldes – immer vorausgesetzt, es war überhaupt noch welches da – gebührte zweifellos uns; aber wir mochten nicht recht glauben, dass die Kameraden unseres Käpt’ns – namentlich