100 Prozent Anders. Tanja Mai
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Meine Eltern erzogen uns Kinder zwar nach katholischem Glauben, aber besonders streng wurde das bei uns nie gesehen. Ich fand es witzig, Messdiener zu sein. So erlebte man wenigstens mal etwas. Am ulkigsten war der Pfarrer. Wenn ich oder der zweite Messdiener ihm die Karaffe mit Wein brachten, hielt er seinen Kelch bewusst so, dass wir ihn vollmachen mussten. Wollten wir Jungs stilles Wasser dazu gießen, zischte er uns an: „Kein Wasser, kein Wasser“, und kippte sich den Wein unverdünnt in seinen gierigen Schlund. Als Junge nimmt man das ja noch nicht so wahr. Außerdem hat man in dem Alter noch Respekt vor dem Herrn Pfarrer. Erst später ging mir ein Licht auf, und ich dachte mir: „Was für eine alte Schnapsdrossel.“
Alle Jungs, die ich kannte, wollten Feuerwehrmann oder Lokomotivführer werden – ich Sänger. Da gab es für mich auch gar keine Alternative.
Doch bevor ich mich voll und ganz auf meine Karriere als kommender Superstar konzentrieren konnte, musste ich zunächst eine etwas weniger glamouröse Laufbahn einschlagen. Mein Vater beschloss nämlich, dass er uns ein weiteres Haus bauen wollte. Achim fand die Hausbau-Idee ganz toll und half in jeder freien Sekunde auf dem Bau mit: Er konnte schon früh Leitungen legen und Schlitze klopfen und war schon immer wahnsinnig praktisch veranlagt. Mein Vater machte fast alles in Eigenleistung. Er kam jeden Abend um fünf Uhr nach Hause. Wir aßen zu Abend, dann zog er seine Arbeitsklamotten an und verschwand mit meinem Bruder auf die Baustelle. Uns ging es finanziell nicht schlecht. Aber dennoch musste während dieser Bauphase das Geld zusammengehalten werden. Auch Zeit für Urlaube gab es keine, da mein Vater jedes Wochenende und seinen kompletten Urlaub für den Hausbau nutzte.
Die ersten Wochen drückte ich mich erfolgreich vor dieser mühsamen Arbeit. Bis mich eines Abends mein Vater zu sich rief und mir mitteilte, dass auch ich mit zwölf Jahren alt genug sei, um eine gewisse Verantwortung zu übernehmen. Ab sofort wurde ich also zum Steine schleppen und Mörtel anrühren verdonnert.
Wer Thomas Anders kennt, der weiß, dass diese Arbeit und ich in keiner Form zusammenpassen. Heute nicht und damals auch nicht. Schließlich macht man sich auf einer Baustelle schmutzig, man schwitzt und ruiniert sich die Hände. Der ganze Staub und Kalk machten mich schier irre. Mein persönliches Grauen war, wenn mein Vater freitagabends zu mir sagte: „Morgen früh um sechs Uhr kommst du mit auf den Bau, nicht immer nur dein Bruder.“ Achim und ich haben einfach total verschiedene Gene, obwohl wir dieselben Eltern und dieselbe Erziehung hatten. Es gibt ein Foto von mir, wie ich eine Schubkarre voller Steine schiebe und dabei ein helles Jackett und eine Lederkrawatte trage. Kaum hatte ich zwanzig Steine weggebracht, rannte ich zum Waschbecken, wusch mir die Hände und cremte sie ein. Mein Vater wurde fast verrückt, wenn er das mitbekam. Zum Glück sah dann auch er schnell ein, dass ich als Bauarbeiter zwei linke Hände hatte.
„Ich kann das nicht mehr ertragen. Mach bloß, dass du hier wegkommst“, schrie er eines Abends. Nichts lieber als das. Fortan wurde ich nur noch für niedere Dienste wie Rasenmähen, Straße kehren oder Müll wegbringen eingeteilt. Ich war auch ein ganz passabler Babysitter für Tanja, was meine Mutter gern und oft ausnutzte. Ich hatte Spaß daran, mit der Kleinen zu spielen. Sie war zwar ein Mädchen, doch auf sie aufzupassen, war für mich bei weitem nicht so nervig wie auf der Baustelle zu helfen. Wir wurden von unseren Eltern dazu erzogen, dass man Pflichten zu erfüllen hat und anderen helfen muss, so gut man kann. Außerdem ließ mir dieser Job noch genügend freie Zeit für meine Musik.
***
Während ich zuhause vorm Spiegel stand und übte, wie es ist, ein Sänger zu sein, stellte ich mir immer vor, ich performte auf einer großen Konzertbühne oder vor einem großen Fernsehpublikum und würde mit meiner Musik Tausende von Menschen zu Tränen rühren. Diese Vorstellung fand ich immer wieder aufs Neue klasse. Oft konnte ich es gar nicht erwarten, vom Spielen oder später aus der Schule wieder nach Hause zu kommen, um endlich Musik machen zu können. Das wussten auch meine Kumpels. Es kam oft vor, dass sie bei uns zuhause klingelten, um sich mit mir zu verabreden, und ich sie wieder wegschickte, weil ich lieber Musik machen wollte.
In einem Dorf, in dem gerade mal 130 Menschen leben, davon höchstens vier, fünf Kinder im selben Alter, ist jeder potenzielle Spielkamerad, der keine Lust hat auf Fußball oder Räuber und Gendarm, natürlich ein Totalausfall für die anderen. Ich wundere mich heute noch, wie ich es geschafft habe, kein verschrobener Einzelgänger zu werden. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass meine Stimme durch dieses damals ja noch spielerische Training für meine spätere Karriere gefestigt und ausgebildet wurde. Das ist eine meiner Erklärungen dafür, weshalb ich so gut singen kann.
Selbstbewusst, ich gebe es zu, war ich schon als Kind. Ich wusste immer, wer ich bin und was ich wollte, und das habe ich auch deutlich gesagt. Ich hatte auch nie Angst vor fremden Menschen. Je mehr in einem Raum waren und mir beim Singen zuhörten, desto mehr Spaß hatte ich. Unseren Nachbarn muss ich heute noch danken. Sie bekamen meine Gesangsübungen ja quasi live mit. Vor allem im Sommer, wenn in allen Häusern die Fenster offen standen, war ich beinahe im ganzen Dorf zu hören. Und zwar täglich.
Als unser örtlicher Schützenverein 2003 sein 100jähriges Gründungsjubiläum feierte, gab ich in Mörz ein großes Konzert und bedankte mich bei allen Einwohnern dafür, dass sie meine Gesangsübungen jahrelang so tapfer ertragen hatten. Ein Mann rief: „Zum Glück hat es sich ja gelohnt.“ Natürlich fingen sofort alle an laut zu lachen.
***
Ich war wohl ein extrem liebes und pflegeleichtes Kind. Zumindest erzählt das meine Mutter immer. Ich hätte meinen Eltern nie großartig Schwierigkeiten gemacht, sagt Mama. Ich weiß nicht, ob das an meinen Genen liegt. Ich war von klein auf sehr gewissenhaft und diszipliniert. Für ein Kind vielleicht schon fast zu vernünftig und brav. Wenn mir jemand sagte, was ich machen solle, tat ich das anstandslos. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meinen Eltern etwas zu verheimlichen. Lügen war mir viel zu anstrengend. Ich machte meiner Mutter auch nie Vorwürfe, dass sie wegen des Ladens keine Zeit hatte, mit uns in den Urlaub zu fahren oder ins Schwimmbad zu gehen. Ich vermisste das alles nicht, da ich meine persönliche Erfüllung in meiner Musik gefunden hatte. Was jedoch dazu führte, dass ich mich sportlich nicht besonders engagierte.
Mit zehn Jahren konnte ich immer noch nicht richtig schwimmen. Mein Bruder war da ein ganz anderer Typ. Er war DLRG-Schwimmer. Eines Tages meinte ein Kumpel zu mir: „Du, ich habe gestern meinen Freischwimmer gemacht. Lass uns ins Schwimmbad gehen, dann mache ich dir das mal vor.“ Ich ließ mich breitschlagen und ging mit. Als wir im Wasser waren, packte er mich und schwamm mit mir los. An der tiefsten Stelle ließ er mich plötzlich los. Da ich nicht schwimmen konnte, ging ich unter wie ein nasser Sack. Ich schluckte literweise Wasser, bekam keine Luft mehr und strampelte um mein Leben. Der Bademeister sah, was los war, sprang ins Wasser und zog mich an den Beckenrand. Ich war völlig panisch und ließ mich nur schwer beruhigen.
Seitdem hatte ich das absolute Trauma im Hinblick auf Schwimmbäder und weigerte mich jahrelang, überhaupt auch nur den großen Zeh ins Wasser zu stecken. Das galt auch fürs Schulschwimmen. Jede Woche hatte ich Streit mit meinem Lehrer, weil er einfach nicht verstehen wollte, dass ich im Wasser Angst hatte.
Als ich 20 war, nahm ich mir einen Schwimmlehrer. Ich hatte keine Lust mehr darauf, stets als Spielverderber zu gelten, wenn ich mit Freunden im Urlaub war oder beruflich in einem schönen Hotel mit Pool wohnte. Also engagierte ich einen privaten Schwimmtrainer. Doch jeder Versuch des armen Kerls, mir das Schwimmen beizubringen, endete in einem Fiasko. Kaum nahm ich im Wasser die Schwimmhaltung ein, spielten sich vor meinem geistigen Auge wieder die Szenen im Freibad ab, und sofort hatte das Trauma mich erneut im Griff. Mein Schwimmlehrer und ich gaben entnervt auf. Zwei Jahre später wollten Nora und ich mit unserer Clique in den Urlaub fahren. Natürlich wussten alle, dass ich nicht schwimmen konnte. Einer aus der Clique, ein Schwimmbesessener, meinte zu mir: „Ich bringe dir das Schwimmen bei!“
Diese