100 Prozent Anders. Tanja Mai

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100 Prozent Anders - Tanja Mai

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es anfing. Vielleicht mit drei oder vier Jahren. Aber seit ich denken kann, wollte ich immer nur Musik machen. Ich konnte kaum sprechen, da fing ich schon an, Lieder im Radio nachzusingen. Mein Bruder musste mir auch regelmäßig Songs aus dem Radio auf Kassette aufnehmen. „Rainer Holbe und die Starparade“ war Ende der 1960er Jahre total angesagt.

      Mich faszinierte die Welt der Musik und der Stars. Musik war für mich ein Gefühl auf einer anderen Ebene. Meine Eltern unterstützten diesen Drang zu meinem Glück.

      Mein Vater war es auch, der mit einem gewissen Nachdruck den Wunsch an uns Kinder weitergab, dass wir mindestens ein Instrument lernen sollten. Was ich übrigens für richtig halte. Er spielte sogar in seiner ehrenamtlichen Funktion als Bürgermeister von Mörz am St. Martinstag Akkordeon. Meine Geschwister und ich bekamen Klavierunterricht, bei Frau Pies im Nachbarort. Aber richtig gut singen kann bei uns in der Familie nur ich. Ich übte mich also am Klavier, sang in meinem Zimmer und bereitete mich schon als Dreikäsehoch mental vor auf die Bretter, die die Welt bedeuten.

      Mein Vater und meine Mutter bestaunten meine Musikbesessenheit mit diesem verständnisvollen Schmunzeln liebender Eltern. Dennoch gaben sie mir von Anfang an das Gefühl, dass sie mich ernst nahmen. Sie ließen uns Kinder sein, wie wir waren, und ließen uns machen, wozu wir Lust hatten. Während Achim in unserem Schützenverein Mitglied war, klebte ich von früh bis spät an jedem x-beliebigen Elektrogerät, aus dem Musik ertönte.

      Ich wuchs in einem liberalen, offenen Elternhaus auf. Meine Eltern erzogen uns Kinder dazu, fair und ehrlich miteinander umzugehen. Natürlich haben wir uns früher auch gestritten. Aber wenn es Probleme gibt, löse ich sie bis heute immer, indem ich Konflikte direkt anspreche und eine Lösung erarbeite. Grundsätzlich bin ich auf Harmonie bedacht. Jeder Tag, an dem ich mich streite, ist für mich ein verlorener Tag. Allerdings nur mit Blick auf Menschen, die ich mag, bei allen anderen ist es mir vollkommen egal.

      Als Schüler war ich sieben Jahre lang Klassensprecher. Wegen meiner ruhigen, bedächtigen Art strahlte ich auf meine Mitschüler anscheinend Führungsqualitäten aus. Ich war ihr Problemlöser. Sie wussten, wenn ich mich um etwas kümmerte, klappte das meist. Bis heute werde ich weder laut noch hysterisch, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Wozu auch? Wer rumschreit, löst keine Probleme. Es kommt immer auf den Ton und die Gestik an, wenn man persönliche Kritik übt. Das habe ich von meinen Eltern gelernt. Sie waren nie wirklich streng mit uns, sondern eher, wie man heutzutage erziehungstechnisch sagt, „liebevoll-konsequent“. Das ist auch nötig, wenn man drei Kinder hat. Dazu noch jede Menge Freunde, die ständig bei uns zu Besuch waren. Ohne eine klare Linie in der Erziehung, wäre es bei uns wie in einem Taubenschlag zugegangen.

      Meine Mutter besitzt ein ganz ruhiges, ausgeglichenes Wesen. Aber wehe, jemand sagt etwas Schlechtes über ihre Lieben, dann wird sie zur Löwin. Mama ist gelernte Dekorateurin. Von ihr habe ich die Liebe fürs Detail und alles Schöne geerbt. Solange ich denken kann, hat sie zu allen möglichen Jahreszeiten und Anlässen unser Haus umgestaltet und liebevoll geschmückt. Mein Vater baute seiner Familie ein Nest, meine Mutter richtete es ein und machte es uns gemütlich. Charakterlich habe ich mir – als Kind sicher unbewusst – vieles von meinen Eltern abgeschaut. Papa und ich sind total pragmatisch veranlagt. Haben wir uns mal für etwas entschieden, wird es auch durchgezogen. Nach dem Motto, jetzt haben wir A gesagt, dann sagen wir auch B, und dann gucken wir mal, was kommt.

      Papas Motto lautet, seit ich denken kann: Durch das Zerreden von Dingen ist noch niemand weitergekommen, durch das Anpacken schon. Das ist unsere Mentalität. Immer geradeheraus und dabei ehrlich sein. Man hat mir schon als Teenager nachgesagt, ich würde eine sehr ausgeprägte Form von Diplomatie besitzen. Meine Freunde meinten, ich könne Menschen ins Gesicht sagen, sie seien Arschlöcher, und dennoch fänden sie mich nett. Nur bei Dieter Bohlen hat das nicht funktioniert. Ihm habe ich ins Gesicht gesagt, was ich von ihm halte, und komischerweise redet er heute nicht mehr mit mir. Doch dazu später.

      Diese direkte, ehrliche Art habe ich nun mal von meinen Eltern gelernt. Vor allem von meiner Mutter, die für uns Kinder die Hauptbezugsperson war.

      ***

      Aufgrund meines südländischen Aussehens werde ich immer wieder gefragt, ob meine Familie mütterlicherseits französische Wurzeln habe. Ich ließ das mal zurückverfolgen bis ins 17. Jahrhundert. Allerdings konnte bei uns keine familiäre Linie nachgewiesen werden, die aus Südeuropa stammt. Aber wer weiß das schon. Mein Vater hatte sechs Geschwister, die sich in sämtliche Himmelsrichtungen verteilten. Auch meine Mutter besaß drei ältere Geschwister, wobei ihr ältester Bruder im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Ihre Lieblings-Schwester lebt in Frankreich. Koblenz war ja nach dem Krieg französische Besatzungszone. Meine Tante Marianne verliebte sich 1943 in einen französischen Soldaten und ging 1947 mit ihm nach Paris. Aus Marianne wurde ein weiches Marian, wie die Franzosen sagen. Nur meine Mutter sagt weiterhin Marianne zu ihr. „So einen Quatsch mache ich nicht mit“, meint sie. Meine Tante redet eigentlich hochdeutsch mit französischem Akzent. Doch wehe, sie ärgert sich über etwas, dann kommt ihr rheinischer Singsang-Dialekt voll durch. Das ist zum Totlachen. Erst kürzlich war sie bei uns in Koblenz zu Besuch.

      Tante Marianne ist mittlerweile 85, sieht aber noch extrem schick und rüstig aus und legt größten Wert auf ein gepflegtes Aussehen. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Unikum, eine wunderbare Mischung aus französischem Esprit und deutschen Tugenden. Sie trägt wenig Schmuck, aber jedes Teil ist etwas Besonderes. Zu jeder Hermès-Tasche kombiniert sie das passende Halstuch. Wie eine richtige Französin eben. Mir kommt ihr Kleidungsstil sehr entgegen. Wahrscheinlich habe ich vieles an ihr bereits als Kind unbewusst in mir aufgenommen.

      Die Ferien bei Tante Marianne und Onkel Robert waren jedes Mal etwas ganz Besonderes. Sie besaßen eine traumhafte Eigentumswohnung in Paris, Parterre, mit einem wunderschönen Garten. Dort habe ich zum ersten Mal etwas typisch Französisches gesehen – diese übertapezierten Türen, die wir in Deutschland gar nicht kennen. Auch vom französischen Toilettenpapier war ich schon als Kind unglaublich begeistert. Bei uns zuhause gab es Klopapierrollen, bevorzugt noch mit diesen scheußlichen bunten Blumen bedruckt. Bei meiner Tante stand auf der Toilette eine elegante Box, aus der man feine, gefaltete Blättchen zog. Diese Ästhetik im Bad hat mich als kleinen Jungen nachhaltig beeindruckt.

      Als meine Cousine Catherine 1969 heiratete, fuhren meine Eltern mit uns Kindern zur Hochzeit nach Paris. 500 Kilometer mit zwei kleinen Kindern im Auto. Es war die Hölle. Dafür war das Fest umso schöner. Es gibt Fotos von mir in einer kurzen weißen Hose mit dunkelblauem Jackett. Mein Bruder Achim hätte so etwas nie angezogen. Ich liebte es schon als Junge, mich schick zu machen.

      Meine Mutter und ihre Schwester telefonieren seit über fünfzig Jahren jeden Sonntag zur selben Uhrzeit miteinander. Sonntags ist es billiger, denken beide. Dutzende Male habe ich versucht, meiner Mutter diesen Spleen auszutreiben, aber sie lässt sich nicht davon abbringen. In der einen Woche ruft Tante Marianne an, das andere Mal meine Mutter. Mein Onkel starb 2008, seitdem lebt meine Tante allein in ihrem Haus an der französischen Atlantikküste.

      Regelmäßig biete ich meiner Mutter an, mit ihr und meinem Vater zu Tante Marianne in den Urlaub zu fliegen. Doch meine Eltern fliegen nicht gern. Und mit dem Auto von Koblenz bis in den Nordwesten Frankreichs zu fahren, ist ihnen verständlicherweise zu anstrengend. Also begnügt sich meine Mutter mit den wöchentlichen Telefonaten mit ihrer Lieblingsschwester.

      Ich bin bis heute ein absolutes Mama-Kind. Wir telefonieren mindestens jeden zweiten Tag miteinander. Sie ist letztes Jahr 75 Jahre alt geworden. Kurz nach ihrem Geburtstag im September rief sie mich an und erzählte mir stolz: „Ich war beim Arzt. Er meinte zu mir: ‚Also, Frau Weidung’, sie haben Blutwerte, die hat manch Fünfzigjährige nicht mehr.“ Im Verhältnis zu meinem impulsiven Vater ist sie die Ruhigere. Innerhalb der Familie ist sie allerdings die Chefin. Nach außen hin scheint mein Vater der Herr im Haus zu sein, doch eigentlich hatte schon immer meine Mutter das Sagen. Eben die klassische Rollenverteilung. Die beiden ergänzen

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