100 Prozent Anders. Tanja Mai

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100 Prozent Anders - Tanja Mai

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entfernt. Es war logisch, dass sie sich irgendwann über den Weg laufen mussten.

      In den Fünfzigerjahren setzte man sich ja nicht mal schnell ins Auto und fuhr zum Feiern in die Diskothek. Auf dem Land gab es im Jahr genau eine Kirmes und ein Schützenfest als Kontaktbörse. Meine Eltern lernten sich 1954 beim Tanzen auf dem Schützenfest kennen. Im Mai 1956 war Hochzeit, im Mai 1957 kam Achim zur Welt. Es war also keine „Muss“-Heirat, sondern tatsächlich Liebe.

      Mein Vater Peter arbeitete als leitender Finanzbeamter in Koblenz und war außerdem nebenberuflich 28 Jahre lang Bürgermeister von Münstermaifeld-Mörz. In seiner Freizeit engagierte er sich als Erster Vorsitzender des örtlichen Schützenvereins und ist mittlerweile Ehrenbürger von Münstermaifeld. Also ein, wie man sagt, durch und durch solider Mann, vom Showbusiness so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Sein schönstes Hobby war es, sich handwerklich zu betätigen. Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, uns Kindern irgendwelche Plastikspielsachen zu kaufen.

      Zu meinem fünften Geburtstag wünschte ich mir unbedingt einen Kaufladen. Da mein Vater nun mal ein Tüftler war, stand er nächtelang in seiner kleinen Werkstatt und baute mir den tollsten, größten und einzigartigsten Kaufladen, den ich je gesehen hatte. Jede Mini-Wurst, jede Tomate, jedes kleine Brötchen hatte er selbst aus Holz geschnitzt. Das Allerbeste daran war aber, dass man den Kaufladen zur Post umfunktionieren konnte. Ich bekam ein Set Postkarten, Briefmarken und kleine Notizblöcke geschenkt und war stolz wie Bolle! Seine handwerklichen Fähigkeiten endeten damit, dass er mit viel Eigeninitiative und Muskelkraft noch ein zweites Haus für die Familie baute. Zu meinem persönlichen Leidwesen, was ich später noch näher erläutern werde.

      Auch die Weihnachtsfeste verliefen bei uns stets nach demselben Ritual, bei dem Papa die Zügel in Händen hielt (das hat er sich zumindest jahrelang eingebildet). Es war jedes Jahr das Gleiche: Kaum hatten wir fünf das Haus verlassen, um zum Weihnachtsgottesdienst zu gehen, da stöhnte meine Mutter: „Du meine Güte, ich habe meine Handschuhe vergessen. Sie liegen in der Küche.“ Mein Vater tat so, als würde er sich über ihre Schusseligkeit aufregen: „Mein Gott, Helga, wo hast du nur deine Gedanken?“

      Papa stapfte also zurück ins Haus und gab vor, Mamas Handschuhe zu holen. In Wirklichkeit legte er aber in Windeseile die Päckchen unter den Weihnachtsbaum und machte alle Lichter im Haus an. Wenn wir von der Messe aus der Kirche nach Hause kamen, erstrahlte das Wohnzimmer in vollem Glanz. Als wir klein waren, waren wir Kinder natürlich felsenfest davon überzeugt, dass das Christkind unser Haus verzaubert hatte. Irgendwann wurden wir jedoch stutzig, da unser Vater jedes Mal ohne Mamas Handschuhe zurückkehrte. Die vergaß er natürlich bei all der Hektik. Als ich acht Jahre alt war und wir am Heiligen Abend wieder mal vorm Haus auf Papa warten mussten, sagte ich ganz trocken: „Papa, du hast wieder die Handschuhe vergessen.“ Ab diesem Zeitpunkt war meinen Eltern klar, dass wir Kinder Bescheid wussten.

      Letztes Jahr zu Weihnachten gab mein achtjähriger Sohn Alexander übrigens den gleichen Kommentar ab, als ich an Heiligabend die Handschuhe meiner Frau vergessen hatte …

      ***

      Meine Mutter führte in unserem Haus eine Gaststätte aus dem Nachlass meiner Großeltern und einen „Tante-Emma-Laden“. Die Gaststätte habe ich nicht mehr in Erinnerung, da sie recht bald nach meiner Geburt geschlossen wurde. Später erzählte meine Mutter mir, dass ich glücklicherweise ein unkompliziertes Baby gewesen sei. Es kam wohl oft vor, dass meine Mutter unten im Erdgeschoss unseres Hauses Gäste in der Kneipe sitzen hatte, denen sie Bier zapfte, während ich oben im ersten Stock in meinem Bettchen lag und schrie. Sie rannte hin und her, Treppe rauf, Treppe runter. Irgendwann hatte sie darauf keine Lust mehr. Stattdessen konzentrierte sich meine Mutter nur noch auf Omas „Tante-Emma-Laden“.

      Für uns Kinder war das natürlich ein Paradies. Süßigkeiten und Eiscreme waren im Hause Weidung immer vorhanden. Wir mussten jedoch um Erlaubnis fragen, wenn wir uns ein Milky Way oder Gummibärchen aus dem Regal nehmen wollten. Unser Geschäft war für uns kein Selbstbedienungsladen, diesbezüglich war meine Mutter sehr streng.

      Auf den gefühlten zwölf Quadratmetern gab es alles, was das Herz begehrte. Obst, Wurst und Käse, Waschmittel, Schreibblocks und Konserven bis hin zu Schokolade und Chips. Jeden Dienstag kam der für uns zuständige Handelsvertreter, um bei meiner Mutter die Bestellungen für die Wochenendlieferung aufzunehmen. Es war damals eine komplett andere Welt. Nicht wie heute, wo man über Scannerkassen den Warenablauf festhält und der angeschlossene Computer auf Knopfdruck im Zentrallager die fehlende Ware ordert, damit sie am nächsten Vormittag geliefert wird. Nein, der Handelsvertreter kam mit seinem Bestellblock zu uns ins Esszimmer, machte bei einer Tasse Kaffee und selbstgebackenem Kuchen auf seiner Liste an der gewünschten Ware seinen Haken, und freitags war die Anlieferung.

      Ich nutzte bei jedem Besuch des Handelsvertreters die Gelegenheit, mein neuestes Repertoire zum Besten zu geben. Sämtliche Lieder von Heintje oder Gus Backus. Später auch von Vicky Leandros, Katja Ebstein und Lynn Anderson mit „Rosegarden“.

      Unser Esszimmer war sozusagen meine erste Bühne. Das Unterhaltungsprogramm in unserem kleinen Dorf hielt sich in Grenzen. Es gab einen Schützenverein und eine jährliche Kirmes. Keine glamourösen Festlichkeiten, aber die wenigen Veranstaltungen, übers Jahr verteilt, waren für mich als Kind immer ganz besonders. Ich war sechs Jahre alt, als in unserer neuen Dorfkneipe mal wieder die traditionelle „Dorfweihnachtsfeier“ anstand und ich gefragt wurde, ob ich ein paar Weihnachtslieder singen wolle. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Kleine von Weidungs gerne singt. Klar! Wie aufregend! Endlich mal nicht nur vor der Tante oder dem Onkel – oder dem wöchentlichen Handelsvertreter. Nein, endlich ein richtiges Publikum!

      Damit die anwesenden Personen, es sind in meiner Erinnerung maximal 50, mich auch sehen konnten, stand ich auf einem Stuhl. Ich wurde angekündigt mit: „Jetzt singt der kleine Bernd“, und ich schmetterte „Heidschi Bumbeidschi“ und noch zwei Weihnachtslieder, a cappella, also ohne begleitende Musik. Als ich meine Lieder gesungen hatte, gab es Applaus und Bravo-Rufe sowie eine Tafel Schokolade und eine Tüte Chips.

      Wow! Der Virus war entfacht! Was für ein Nährboden für eine jungfräuliche Künstlerseele. Ich tat etwas, das mir Spaß machte, und bekam dafür als Lohn etwas, das mir schmeckte.

      Hallo, ihr Bühnen der Welt, ich komme!

      ***

      Im Februar 1970 veränderte sich mein familiäres Leben. Meine Schwester Tanja wurde geboren, und ich war damals mindestens genauso aufgeregt wie mein großer Bruder bei meiner Geburt.

      Ich hatte mir immer eine kleine Schwester gewünscht. Seit ich fünf Jahre alt war, legte ich fleißig Zuckerstücke für den Klapperstorch auf unsere Küchenfensterbank. In unserer Weidung-Großfamilie mit vielen Tanten und Onkel gab es 16 Enkel, davon aber nur drei Mädchen. Seit ich denken kann, hieß es bei uns zuhause: „Bei den Weidungs kommen immer Jungs raus. Die können keine Mädchen.“ Aber ich wünschte mir eine kleine Schwester. Als Tanja geboren wurde, war das für mich natürlich großartig. Gleichzeitig fand ich es auch völlig normal, dass der Klapperstorch sich über meinen Zucker gefreut und deshalb meinen Wunsch erfüllt hatte. Erst Jahre danach fragte ich mal vorsichtig nach, wer eigentlich den Zucker von der Fensterbank weggenommen habe. Es war meine Mutter.

      In Mörz gab es keine Schule, deshalb verbrachte ich die ersten beiden Jahre meiner Grundschulzeit in einem Nachbarort, und danach besuchte ich die Grundschule in Münstermaifeld. Zwischen Lernen und familiären Verpflichtungen trat ich zwischendurch bei diversen Dorffeiern im Umland und im Altenheim auf und sang einige Lieder meines Repertoires. Meine komplette Freizeit bestand aus Singen! Während meine Kumpels aus dem Dorf auf dem Bolzplatz umhertobten, hüpfte ich zuhause in meinem Zimmer vor dem Spiegel herum und sang. Kurzzeitig war ich einmal Messdiener in unserer kleinen Dorfkirche. Da man dabei ja auch irgendwie im Rampenlicht stand und etwas Besonderes war, hatte ich mich

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