Fantasy. Martin Hein
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Meine Großmutter war für mich der Mensch, der mir am meisten Wärme gab. Mehr als meine Eltern. Sie war eine Oma wie aus dem Bilderbuch. Egal, welchen Mist ich auch angestellt habe, ob meine Mutter oder mein Opa mit mir schimpften – meine Oma Christa hat mich auf ihren Schoß gesetzt, mich fest umarmt und gesagt: „Ich halte zu dir, mein Schatz. Die anderen sind doch alle doof.“ Sie war für mich als Kind der Sonnenschein meines Lebens. Leider starb meine geliebte Oma am 19. Februar 2010. Ihr warmes Lächeln und ihren besonderen Duft nach Pfirsichen bewahre ich tief in meinem Herzen.
Meine Oma hatte eine Nachbarin. Mit deren Enkel Heinrich spielte ich immer auf der Straße Fußball. Von morgens bis abends. Wir waren richtige Straßenkinder. Uns bekam man kaum ins Haus, solange wir einen Ball zur Verfügung hatten. Eines Tages bekam die Familie Besuch von Verwandten aus Deutschland, die als Geschenk für Heinrich ein Paar nagelneue Fußballschuhe von Adidas mitgebracht hatten. Ich werde das nie vergessen! Fußballschuhe waren für uns damals das Allergrößte, und dann auch noch in einer so kleinen Größe. Das war unglaublich! Als hätte man vor 20 Jahren ein iPhone geschenkt bekommen!
Vor dem Haus hatten die Großeltern von Heinrich eine Einfahrt aus Asche. Bestimmt zehn Jungen haben sich dort stets versammelt. Heinrich kam natürlich in seinen Fußballschuhen. Jeder von uns durfte sie mal anziehen und damit zur Garage rennen und wieder zurück – ausziehen und zack, war der Nächste dran. Ein unvergessliches Erlebnis.
Kurze Zeit später spielten wir einmal in den Hügeln rund um den Ort, als wir plötzlich von weitem ein grünleuchtendes Auto ins Dorf fahren sahen. Ein Ford Capri in Metallic-Grün. Die Sonne schien, und es wirkte, als würde das Auto leuchten. Wir konnten unser Glück kaum fassen, als würde ein Lamborghini in Rio de Janeiro in die Favelas einfahren. Was war das denn?! Wir rannten sofort runter ins Dorf, um zu sehen, wo das Auto hin wollte. Es fuhr in unsere Straße und hielt tatsächlich vor dem Haus meiner Großeltern. Mein Herz ist fast stehengeblieben vor Aufregung.
In der ersten Sekunde dachte ich, es könne vielleicht mein Vater sein.
Nein. Es war ein enger Freund meines Vaters, der auch in Deutschland lebte und in Polen auf der Durchreise war. Scharen von Kindern klebten mit ihren Nasen an dem Auto. Als ich endlich ankam, traute ich mich erst gar nicht, ins Haus zu gehen. Stumm und ehrfürchtig saß ich bei meiner Oma auf dem Schoß und inhalierte jedes Wort, das der Mann über Deutschland erzählte. Er hatte mir Schokolade mitgebracht, die ich noch am selben Abend auf der Straße mit meinen Freunden teilte.
Als der Mann weg war, saß in ich in Omas Küche auf dem Boden und spielte mit einem Auto. Während ich unter den Stuhl kroch, auf dem kurz zuvor der fremde Mann gesessen hatte, nahm ich plötzlich einen besonderen Geruch war. Er kam von dem Kissen, das auf dem Stuhl lag. Ich konnte das Waschpulver der Jeans riechen, die der Mann getragen hatte. Es roch nach Westen! Ich nahm das Kissen in die Hand und roch an diesem Abend immer wieder daran. Nie zuvor habe ich mich so intensiv nach Freiheit und meinem Vater gesehnt wie in diesem Moment …
Ähnlich ging es uns, wenn wir Pakete aus dem Westen geschickt bekamen. Meine Mutter stellte sie immer auf den Küchentisch. Wenn ich nach Hause kam und unsere Schätze in Händen hielt, roch das alles so intensiv nach Deutschland. Die Seife. Der Kaffee. Die Schokolade. Das alles war purer Luxus für uns, den wir uns in Polen nicht leisten konnten. Außerdem schmeckten die Sachen aus dem Westen viel besser als die polnischen Produkte. Diese intensiven Geschmackserlebnisse haben sich bis heute tief in meine Erinnerungen eingegraben. Sie lassen mich noch ein bisschen mehr schätzen, wie gut es mir heute geht und was ich mir alles erarbeitet habe. Damals, in meinem kleinen Dorf im armen Polen hätte niemand damit gerechnet, dass ich einmal als Musiker Karriere machen sollte.
Kapitel 2:
Fredi besitzt kroatische Wurzeln und hat es in seinem jungen Leben nicht einfach
In bin in Deutschland geboren. Am 11. März 1971 um 4 Uhr früh im Klinikum Essen. Mein Bruder Djordje (das spricht man Georgie) war schon fast drei, als ich die Familie Malinowski komplettmachte. Ich möchte meinen Weg mit meinem Vater Josef Malinowski beginnen, denn wegen ihm hat sich alles Weitere für die Familie ergeben. Er war ursprünglich Deutscher mit polnischer Abstammung. Er hatte, wie ich, in Essen das Licht der Welt erblickt. Am 5. März 1940. Mein Vater war vier Jahre alt, als sein eigener Vater bei einem Grubenunglück auf der Zeche Zollverein in Essen ums Leben kam. Bei einer Schlechtwetterexplosion ereignete sich die Katastrophe. Einige Zeit später hat meine Oma, also die Mutter meines Vaters, dann einen Kroaten kennengelernt und ist mit ihm und ihren drei Söhnen in dessen Heimat ausgewandert.
Er hatte ihr ein sorgenfreies Leben versprochen, in einem riesigen Haus am Meer: Sie müsse nie mehr arbeiten und noch ganz viel Blabla mehr –
denn natürlich stimmte kein einziges Wort. Viele von Omas Freunden konnten ihren Wegzug nicht verstehen. Immerhin wäre sie nach dem Tod ihres Mannes, der ja durch einen Arbeitsunfall gestorben war, durch den deutschen Staat abgesichert gewesen. Sie bekam Unfall- und Witwenrente und für die Kinder Waisenrente. Von dem vielen Geld konnte sie richtig gut leben. Doch sie wollte auf niemanden hören und zog bei Nacht und Nebel mit ihrem Lover nach Kroatien.
Als sie dort angekommen waren, hat er die Ausweise von ihr und den Kindern weggeworfen, damit sie nicht wieder zurück nach Deutschland hätten gehen können. Also lebten sie fortan in einem uralten Haus, besser gesagt: in einem Stall. Ausrangierte Holztüren wurden auf den Boden gelegt, damit sie nicht auf dem kalten Boden schlafen mussten, es gab weder Strom noch heißes Wasser, meine Oma musste auf einem betagten Holzofen kochen und Gemüse auf dem Feld anbauen. Es muss die Hölle gewesen sein, doch meine Großmutter hat nie den Mut gefunden, diesen Mann zu verlassen. Tja, deshalb sind mein Vater und seine Brüder dann in ärmsten Verhältnissen groß geworden. Auch Papa blieb in Kroatien. Als er 27 war, hat er auf einer Hochzeit meine damals 17-jährige Mutter Radojka kennengelernt, auch Kroatin.
Es war bei beiden Liebe auf den ersten Blick. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, hat den beiden geraten, sofort zu heiraten. Sie war streng katholisch und bestand darauf, diese Beziehung quasi schon nach dem ersten Kuss zu legitimieren. Sie riet meiner Mutter: „Behalte diesen Mann. Er ist im reichen Deutschland geboren, du gehst mit ihm, und dort wirst du es dann gut haben.“ Und so ereilte meine Mutter leider dasselbe Schicksal, welches auch meiner anderen Oma schon mit ihrem kroatischen Mann zugestoßen war. Meine Eltern heirateten, als meine Mutter bereits mit meinem Bruder schwanger war. Dann zogen sie nach Deutschland, weil mein Vater seiner jungen, unerfahrenen Frau erzählt hatte, wie gut es allen Menschen dort gehe; jeder habe Arbeit, wohne in einem eigenen Haus und fahre ein großes Auto. Dass die Wirklichkeit eine andere war, ahnte meine Mutter zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Sie sind dann in Metzingen bei Stuttgart hängengeblieben. Dort fand mein Vater einen Job als Maurer, und dort wurde im Juni 1968 auch mein Bruder geboren. Sie blieben ein Jahr, wohnten in einer Einzimmerwohnung zu dritt – und dann hat es meine Mutter nicht mehr ausgehalten. Sie ging mit meinem Bruder für ein halbes Jahr zurück nach Kroatien. Mein Vater fing an zu trinken. Er kam nicht damit klar, dass sie ihn verlassen hatte. Er reiste ihr hinterher, gelobte Besserung und schaffte es tatsächlich, dass meine Mutter ein zweites Mal mit ihm nach Deutschland ging.
Sie zogen nach Essen. Dort fand mein Vater mithilfe seines Bruders eine winzige Wohnung und eine neue Arbeitsstelle als Maurer. Es war nur ein Zimmer, Bad und Toilette befanden sich auf dem Flur und wurden von allen Mietern genutzt. Als ich zur Welt kam, wohnten wir immer noch in diesem Loch. Und das sollte so bleiben, bis ich zwölf war. Wir waren sehr, sehr arm.
Aber das Schlimmste, was passierte – ich hätte beinahe meine Mutter verloren.