Fantasy. Martin Hein
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Kapitel 5:
Fredis großer Bruder kommt ins Heim
Ich bin meinem Vater sehr ähnlich, obwohl mein Bruder immer behauptet, er komme mehr nach ihm als ich. Ich hingegen finde, Djordje sieht meiner Mutter ähnlich. Mein Bruder ist überhaupt ganz anders als ich. Was uns vereint, ist der frühe Tod meines Vaters, der uns beide völlig aus der Bahn geworfen hatte. Mein Bruder war immer Papas Liebling. Als mein Vater dann starb, war Djordje völlig am Boden, er war ja damals schon zehn Jahre alt und ahnte viel genauer als ich, wie sehr uns unser Papa fehlen würde. Mein Bruder hat damals komplett den Halt verloren und fand in dieser schweren Zeit leider die falschen Freunde. Irgendwann fing er an zu klauen und wollte auch mich dazu überreden. Da er mein großer Bruder war und ich mir wünschte, dass er stolz auf mich sein konnte, begleitete ich ihn auf seinen Streifzügen durch Kaufhäuser und Geschäfte. Wir haben Bleistifte und Süßigkeiten geklaut, ich auch, obwohl ich mir vor lauter Angst, erwischt zu werden, beinahe in die Hose machte. Gott sei Dank liefen wir nie einem Kaufhausdetektiv in die Arme. Das hätte unserer Mutter das Herz gebrochen, wenn die Polizei uns aufgegabelt und nach Hause gebracht hätte.
Meine Mutter musste auf jeden Pfennig achten. Es kam regelmäßig vor, dass wir nicht genügend Geld hatten, um Lebensmittel zu kaufen. Diese Tage, an denen der Kühlschrank leer blieb, waren die Hölle! Wir hatten Hunger. Also zogen mein Bruder und ich los, um einkaufen zu gehen. Djordje hatte viel mehr Mut als ich. Wir packten den Einkaufswagen voll, und als wir kurz vor der Kasse waren, sind wir losgerannt. An der Kassiererin vorbei. Er hat es sogar noch geschafft, Plastiktüten mitgehen zu lassen. Wir sind gerannt, als wäre der Teufel hinter uns her. In einer abgelegenen Straße packten wir alles in die Tüten, dann gingen wir nach Hause. Natürlich hatte ich jedes Mal Angst davor, erwischt zu werden. Ich habe auch geweint und mit meinem Bruder geschimpft: „Djordje, bist du bescheuert, du kannst doch nicht rausgehen und klauen. Wenn jetzt die Polizei kommt.“ Ich traute mich gar nicht, die Lebensmittel anzurühren, obwohl mir mein Magen vor lauter Hunger in den Kniekehlen hing. Ich war ja eh so dünn und klapprig, dass ich aussah wie ein hungriges Kind aus Äthiopien. Doch die Angst vor der Polizei lag mir wie ein Stein im Magen. Erst als drei, vier, fünf Stunden vergangen waren und keine Polizei vor unserer Tür stand, entspannte ich mich. Ich habe uns dann Nudeln mit Tomatensoße gekocht, das war mein Lieblingsessen.
Wir hatten einige dieser Situationen. Mein Bruder rutschte immer mehr ab, er ging kaum noch zur Schule, hing mit Kumpels ab, wurde frech, prügelte sich ständig. Als Djordje 13 Jahre alt war, wurde seine Klauerei so schlimm, dass er mehrfach von der Polizei aufgegriffen wurde. Auch das Jugendamt schaltete sich ein, und nun konnte meine Mutter ihre Augen vor diesem Drama nicht mehr verschließen. Die Dame vom Jugendamt war sogar noch ganz nett, als sie meine Mutter ins Gebet nahm: „Mensch, Frau Malinowski. Sie müssen sich jetzt um Ihren Sohn kümmern, das geht so nicht weiter. Bei uns stapeln sich Anzeigen und Beschwerden. Wenn das so weitergeht, kommt Ihr Sohn ins Heim.“
Da war natürlich zu Hause der Teufel los. Meine Mutter, gerade 30 geworden, war mit der Situation vollkommen überfordert. Und ich hatte jetzt natürlich erst richtig Angst, weil ich befürchtete, das Jugendamt könne unsere kleine Familie auseinanderreißen und womöglich auch mich in ein Heim stecken. An manchen Tagen war meine Panik so übermächtig, dass ich gar nicht mehr zur Schule gehen wollte. Ich hatte Angst, dass die Lehrer mich einfach ans Jugendamt ausliefern würden, wenn ich mal wieder etwas angestellt hatte. Also blieb ich lieber in unserer Wohnung.
Ich hatte über Jahre Angst vorm Jugendamt. Ich bildete mir ein, die Mitarbeiter würden mich ganz böse ansehen, so nach dem Motto: Junge, bald bist du fällig! Es war ja schon schlimm genug, dass wir unseren Papa verloren hatten. Ich wollte nicht auch noch wegmüssen von meiner Mama. Wenn ich heute darüber nachdenke, hatte ich als Kind eigentlich ständig Panikattacken und Verlustängste. Und tatsächlich, als Djordje 14 und ich 11 Jahre alt war, passierte der familiäre Super-GAU. Zwei Mitarbeiter vom Jugendamt klingelten an unserer Wohnungstür, und die Dame sagte: „Frau Malinowski, wir holen Ihren Sohn jetzt ab und bringen ihn in ein Kinderheim. Mit Ihrem Einverständnis oder gegen Ihren Willen. Das geht so nicht weiter. Die Zustände bei Ihnen sind einfach untragbar geworden.“
Meine Mutter unterschrieb die Einwilligungserklärung. Obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte, aber sie hatte Angst. Sie hatte ja selbst längst gemerkt, dass ihr ältester Sohn immer tiefer abgerutscht war. Sie dachte sich, bevor sie wirklich keine Gewalt mehr über ihn hätte, würde sie sich lieber Hilfe holen und schauen, dass er ins Heim käme. Das aber letztendlich kein Heim für schwererziehbare Kinder war, sondern eigentlich mehr ein Ort für Kinder, die ein bisschen Unterstützung im Leben brauchten und einfach mal einen Menschen, der kontinuierlich Zeit hatte und mit dem man offen über seine Gefühle reden konnte. Was sich anfangs für meinen Bruder (und uns) wie eine Katastrophe anfühlte, war in Wahrheit also die beste Zeit seines Lebens. Denn endlich fand er den Zuspruch, den ihm meine Mutter nie geben konnte.
Für mich war’s eine ganz grässliche Zeit, weil ich in meinem jungen Leben dadurch schon wieder einen Menschen verloren hatte, wenn auch nur für eine befristete Zeit. Meine Güte, jetzt war schon wieder einer weg. Was sollte bloß aus mir werden? Ich war ja noch klein, gerade mal elf, als mein Bruder von uns wegging. Von da an hatte ich das Gefühl, dass ich für meine Mutter nun Ehemann- und Bruder-Ersatz zugleich sein müsse. Ich fühlte mich für sie verantwortlich, wollte sie beschützen und für sie stark sein. Dieser Druck lastete auf meinen schmalen Schultern wie ein Zementklotz. Ich tapezierte unsere Wohnung, holte Kohle aus dem Keller und sorgte dafür, dass der Kohleofen immer brannte. Ich machte alles, was ein Mann macht. Meine Mutter hatte damals ja bereits ihren Freund Ivan, und wenn er böse zu ihr war, habe ich sie getröstet. „Mama, weine doch nicht, es wird schon alles gut. Ich bin doch da. Ich bin jetzt dein Mann, und ich passe auf dich auf.“ Ich litt wie ein angeschossenes Reh. Aber ich wollte mir keine Schwäche zugestehen.
Kapitel 6:
Fredis Mama wird schwer krank
Als wäre das alles nicht schon schlimm genug gewesen, wurde meine Mutter kurz darauf auch noch schwer krank. Sie bekam eine Psychose und bildete sich ein, dass sie verfolgt würde von fremden Menschen, die ihr schaden und sie einsperren wollten. Man muss nicht Psychologie studiert haben, um sagen zu können, dass es sicher eine Folge dessen war, was meine Mutter in ihren jungen Jahren schon alles an Negativem erlebt hatte. Mit 17 Jahren musste sie ihre Heimat verlassen, bekam in Deutschland einen Schock, weil mein Vater weder Geld, Wohnung noch einen Job hatte. Dann kam auch schon mein Bruder auf die Welt. Sie bekam Windpocken, meine Eltern hatten aber kein Geld, um zum Arzt zu gehen und die Windpocken behandeln zu lassen. Es folgte die unglückliche Ehe mit meinem Vater, der sie schlug, wenn er mal wieder zu viel getrunken hatte. Die Beziehung mit Ivan, der sie und uns Kinder schlecht behandelte. Die ewigen Sorgen, wovon wir leben sollten. Und dann kam auch noch mein Bruder ins Heim.
Meine Mutter hatte mit 30 schon so viel erlebt wie andere Menschen in einem ganzen Leben nicht. Hätte man das Leben meiner Mutter in einem Kinofilm gesehen, wäre man sicher schockiert gewesen von all dem Elend, aber man hätte eben gedacht, es sei ja nur ein Film. Es war aber bittere Realität.
Meine Mama lag dann sechs Wochen lang im Krankenhaus. In der neurologischen Abteilung. Die Ärzte waren großartig, nahmen sich ihrer an, und sie konnte sich ihr ganzes missglücktes Leben von der Seele reden. Sie konnten ihr helfen, was mich sehr für sie freute. Für mich waren diese sechs Wochen ein Albtraum, weil mir meine Mutter natürlich sehr gefehlt hat. Ich hatte immer Angst, dass auch sie mich verlassen könnte und ich dann irgendwann ganz alleine wäre auf der Welt. Ich musste in dieser Zeit bei Ivan wohnen, was die ganze Sache nicht besser machte. Im Gegenteil. Ich fühlte