Fantasy. Martin Hein

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Fantasy - Martin Hein Musiker-Biografie

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alles hineingestopft, was irgendwie möglich war. Wir hatten zwei Kisten, die schon vor uns auf die große Reise mit dem Zug nach Deutschland geschickt wurden. Jeder von uns durfte einen Koffer mitnehmen. Wir sind dann mit dem Bus von unserem Dorf zum Bahnhof nach Gleiwitz gefahren. Dort stiegen wir in den Zug. Das war für uns Kinder wahnsinnig aufregend. Damals gab es ja noch die bewachten Grenzen. Nachts wurden wir von Zollbeamten mit scharfen Hunden ausgefragt, unsere Pässe wurden kontrolliert. Die haben mit dem Spiegel und Taschenlampen unser komplettes Abteil durchsucht. Das war ganz großes Kino!

      Nach zwölf Stunden kamen wir völlig gerädert im Grenzdurchgangslager in der niedersächsischen Gemeinde Friedland im Landkreis Göttingen an. Die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg für vertriebene Deutsche aus den ehemals deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland genutzt. Das Lager war von der britischen Besatzungsmacht auf dem Gelände der nach Friedland ausgelagerten landwirtschaftlichen Versuchsanstalt der Universität Göttingen errichtet und am 20. September 1945 in Betrieb genommen worden. Es trug den Beinamen „Tor zur Freiheit“. Das gefiel mir.

      Das Lager wurde als Übergangseinrichtung für Aussiedler aus Polen und der DDR genutzt, heute dient es vor allem als Aufnahmelager für Spätaussiedler.

      In Friedland waren wir drei Tage, dann ging es für uns weiter in das Aufnahmelage nach Unna-Massen, wo man zwei Monate bleiben musste. Dort wurde für die Einwanderer alles Behördliche geregelt, vom Übersetzen der Geburtsurkunde angefangen, außerdem entschied man, in welchem Bundesland man sich niederlassen wollte. Meine Mutter hatte die ganze Zeit mit den Ämtern zu tun, und mein Bruder und ich sind in der Zwischenzeit schon in die deutsche Schule gegangen.

      Das Leben in einem solchen Lager ist recht spartanisch. Wir hatten zu dritt ein Zimmer mit zwei Doppelstockbetten, Bad und Toilette waren auf dem Flur. Auf unserer Etage wohnten vier verschiedene Familien, wir teilten uns eine Küche mit zwei Herdplatten und einem Kühlschrank. Im Keller gab es eine Waschküche mit zwei Gemeinschaftswaschmaschinen. Wir hätten theoretisch ja direkt zu meinem Vater ziehen können, der in Burscheid wohnte. Aber es war Pflicht für Neuankömmlinge, diese Prozedur zu durchlaufen.

      Das Spannendste an diesem neuen Leben war für mich natürlich: Ich durfte endlich meinen Papa wiedersehen! Ich war neugierig. Als ich ihn dann am Bahnsteig sah, war er mir fremd. Ich hatte ihn nach fünf Jahren ganz anders in Erinnerung. Aber schön war dieser Moment trotzdem. Unvergesslich.

      Meine Eltern hielten Händchen, und wir beschlossen, erst einmal essen zu gehen. Wir sind dann an einem kleinen Tante-Emma-Laden vorbeigekommen, den wir Kinder unbedingt von innen sehen wollten. Er war das erste Geschäft, das ich in Deutschland betreten habe. Ich stand in dem Laden und wusste nicht, wie mir geschah. Sie müssen sich vorstellen, wie man sich wohl fühlt, wenn man sein ganzes Leben in einer Schwarz-weiß-Kulisse gelebt hat, und plötzlich öffnet man die Augen, und um einen herum leuchtet die ganze Welt in den schillerndsten Farben. Wie eine Million Regenbogen!

      Die Fülle an Lebensmitteln in dem winzigen Laden hat mich erschlagen. Ich sah das viele unterschiedliche Obst und konnte meinen Augen nicht trauen. Ich habe jedes einzelne Stück angefasst, um mich zu vergewissern, ob es auch echt war. Wie in Trance lief ich durch das Geschäft. An der einen Wand hingen Matchbox-Autos, daneben ganz viel anderes Spielzeug.

      Auf den Straßen das Gleiche: viele schicke Autos. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt ja nur Trabant und Wartburg. Plötzlich mit Mercedes, Opel und BMW konfrontiert zu sein, hat mich fasziniert.

      Das Ergebnis dieser ersten Erlebnisse war: Ich habe vier Tage lang mit 40 Grad Fieber im Bett gelegen. Mein Kopf konnte das, was er da gesehen hat, nicht verarbeiten.

      Dann mussten wir, wie gesagt, in das zweite Lager nach Unna-Massen, eine Stadt im östlichen Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen. Meine Mutter konnte unsere Personalausweise beantragen, mein Bruder und ich sind zur Schule gegangen. Unsere erste deutsche Schule. Wir haben zwar auch in Polen teilweise deutsch gesprochen, weil meine Großeltern ja Sudetendeutsche waren. Aber hier in Unna fiel es uns schwer, mit der Sprache klarzukommen. Ich habe damals nur Bruchstücke verstanden.

      Rückblickend würde ich sagen, dass die Ehe meiner Eltern schon damals in Unna gescheitert war. Mein Vater wohnte in Burscheid und pendelte zwei, drei Mal zu uns ins Lager. Aber unterbewusst spürten wir Kinder, dass die Leidenschaft zwischen meinen Eltern der Vergangenheit angehörte. Sie waren höflich und nett zueinander, aber Zärtlichkeiten oder Spaß waren nicht im Spiel. Ich verlor zwar kein Wort darüber, aber ich habe schnell gemerkt, dass es zwischen den beiden nach all der Zeit, in der sie alleine gelebt hatten, nicht mehr funktionierte.

      An einem Wochenende holte uns mein Vater dann zu sich in die Wohnung. Für meine Mutter ist damals die Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft als Familie zerbrochen. Sie war unendlich enttäuscht, als sie realisierte, dass in dieser kleinen Dreizimmerwohnung rein gar nichts für unsere Ankunft vorbereitet war. Keine Blumen auf dem Tisch, kein Kinderzimmer für Damian und mich. Im Gegenteil: Meine Großmutter Erna, die Mutter meines Vaters, war zwei Jahren nach meinem Vater aus Polen ausgereist. Sie wohnte seitdem mit meinem Vater zusammen. Die beiden hatten sich ihre kleine Welt eingerichtet. Mein Vater arbeitete in einem Konzern als Schlosser, meine Oma kochte, ging einkaufen und machte ihm seine Wäsche.

      Natürlich hatte meine Mutter erwartet, dass Oma in eine eigene Wohnung ziehen würde, wenn wir drei endlich in Deutschland sein würden. Doch Oma und auch mein Vater dachten gar nicht daran, dass sich an ihrem Rhythmus etwas ändern sollte. Für Papa war es ein einfaches, bequemes Leben gewesen. Er hatte sich mit der Situation arrangiert ­– ein bisschen war es so gekommen, wie die bösartigen Lehrer in meiner polnischen Schule es vorhergesagt hatten. Papa freute sich zwar, uns zu sehen. Aber das war es auch schon.

      Die letzten drei Jahre in Polen hatte meine Mutter einen Freund gehabt. Wir ahnten nicht, was das bedeuten würde. Martin war auch für mich ein sehr guter Freund. Wir nannten ihn Onkel, das ist in Polen ganz normal, sobald jemand im engeren Sinn zur Familie gehört. Und Martin gehörte zur Familie. Er wohnte nicht weit von uns entfernt und war der Sohn des besten Freundes meines Großvaters. Meine Mutter und er kannten sich also schon von Kindesbeinen an. Für mich und Damian war es selbstverständlich, dass Martin mit uns zu Abend aß oder ins Hallenbad zum Schwimmen ging. Er kümmerte sich um uns.

      Ich habe ihn und meine Mutter nie beim Küssen erwischt. Sie liefen vor uns Kindern auch nie Hand in Hand herum oder berührten sich. Aber Martin war regelmäßig bei uns, ging mit meiner Mutter zum Einkaufen oder abends mal in die Dorfkneipe.

      Heute sage ich: Es war völlig normal, dass meine Mutter sich damals nach einer starken Schulter sehnte. Sie war gerade erst Mitte 20 und lebte jahrelang von ihrem Mann getrennt. Einmal im Monat kam ein Brief, das war alles an Beziehung. Deshalb habe ich meinen Eltern auch niemals einen Vorwurf gemacht, als sie sich in Deutschland dann getrennt haben. Ich bin mir sicher, dass auch mein Vater eine Freundin hatte, während wir noch in Polen lebten. Als ich ihn einmal in seiner Wohnung besuchte, fand ich im Keller eine Kiste mit Fotos, darauf hatte er eine hübsche Blondine im Arm und küsste sie. Ich habe ihn nie darauf angesprochen. An den Wochenenden verbrachte er damals viel Zeit mit seinem besten Freund. Beide sahen gut aus, waren gerade Anfang dreißig. Und sie sind sicher nicht nur in die Kirche gegangen, wenn sie ausgingen.

      Als wir eines Morgens in unserem Zimmer in Unna am Frühstückstisch saßen, Mama, Damian und ich, sagte meine Mutter mit ruhiger Stimme: „Kinder, ich habe mir überlegt, dass wir nicht zu Papa ziehen werden.“ Pause. „Ich habe eine sehr gute Freundin hier in Nordrhein-Westfalen. Die Anna. Sie kam schon vor einem Jahr aus Polen hierher und wohnt mit ihrer Familie in Friedrichsfeld bei Wesel. Sie will uns helfen, eine eigene Wohnung zu finden.“ Wir kannten Anna und mochten sie. Meine Mutter erzählte uns, dass Anna versprochen habe, sich um uns zu kümmern, solange wir kein eigenes Dach über dem Kopf hätten. Sie sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen und dass wir erst einmal bei ihr und ihrem Mann einziehen könnten.

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