Fantasy. Martin Hein
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Ich war so unglaublich verletzlich, dass ich sofort losheulen könnte, wenn ich an damals denke. Ich wollte stark sein, aber ich war es nicht. Ich war zu klein und zu schwach und spielte allen nur vor, dass es mir gutginge. In Wahrheit war das jedoch die schlimmste Zeit meines Lebens.
Als meine Mutter endlich wieder zu Hause war, freute ich mich riesig. Aber nur kurz, denn ich musste viel ertragen. Die Wahnvorstellungen sind sofort wieder schlimmer geworden, nachdem Mama die Klinik verlassen hatte. Ständig fühlte sie sich beobachtet und sagte: „Fredi, hier ist jemand. Ich glaube, hier kommt jemand.“ – „Mama, was ist denn los mit dir? Hier kommt doch niemand.“ – „Ich weiß nicht. Ich habe Angst.“
Diese Angstzustände hielten ein ganzes Jahr an. Ich war verzweifelt und traute mich kaum noch, sie alleinzulassen: „Mama, bitte weine doch nicht. Ich bin doch da. Ich passe auf dich auf.“ Wenn es ganz schlimm wurde, ließ sich meine Mutter freiwillig in die Klinik einweisen, damit ihre Medikamente neu eingestellt werden konnten. Erst als sie dann regelmäßig mit einem Psychologen arbeitete, wurde ihr Zustand besser. Er hatte ihr gesagt: „Frau Malinowski, Sie können nur gesund werden, wenn Sie sich selbst heilen und nur noch das tun, was für Sie gut ist. Alles Schlechte müssen sie ablegen.“
Meine Mutter befolgte diesen Ratschlag und nahm eine Zeitlang von der ganzen Familie eine Auszeit. Sie wollte einfach nur mal für sich sein. Das ist ihr auch gut gelungen. Und seitdem geht es meiner Mama blendend. Es glückte ihr tatsächlich, alles Negative zu verarbeiten und aus Seele und Herz zu verbannen. Ich bin echt froh, dass sie das geschafft hat und dass es ihr heute gutgeht. Unser Verhältnis ist sehr stark und emotional. Als mein Bruder im Heim war, sind Mama und ich natürlich noch mal enger zusammengewachsen. Wir waren die meiste Zeit zu zweit, Djordje kam uns nur am Wochenende besuchen. Ich habe mich immer so sehr gefreut, wenn Freitag war und mein Bruder abends nach Hause kam. Endlich konnte ich ihn wieder in die Arme schließen. Wenn Djordje bei mir war, hatte ich das Gefühl: Da ist jetzt jemand, der ist stark und der hilft dir! Jetzt hast du ein Wochenende frei, jetzt ist dein Bruder da, er kümmert sich um alles.
Mein Bruder blieb bis zu seinem 18. Geburtstag in diesem Heim, weil er da auch seine Lehre gemacht hat und sich recht wohlfühlte. Anschließend zog er wieder bei Mama und mir ein. Ich war froh, dass mein Bruder wieder da war. Er hat auch gleich eine Arbeitsstelle gefunden und verdiente richtig viel Geld als Schlosser, weil er auf Montage ging. Ich war 15 und wahnsinnig stolz auf meinen Bruder, weil er ein festes Einkommen hatte. Wir verstanden uns auf den ersten Blick so gut wie immer. Aber tief in mir drin spürte ich, dass wir uns auseinandergelebt hatten. Ob es an den drei Jahren Altersunterschied lag oder vielleicht doch daran, dass er so lange fort gewesen ist, mag ich nicht beurteilen. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Wir hatten plötzlich überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr. Ich hatte mich so gefreut, dass er wieder da war. Aber im Grunde genommen war ich trotzdem alleine, weil mein Bruder immer abwesend war. Unter der Woche auf Montage, am Wochenende dann traf er seine Freunde und hatte natürlich andere Interessen als ich „Teenager-Zwerg“.
Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Das blieb auch so bis vor rund sechs Jahren. Obwohl wir beide ein komplett unterschiedliches Leben führen, haben wir uns wiedergefunden und seitdem einen wirklich intensiven Kontakt. Wir gehen ganz entspannt miteinander um, treffen uns regelmäßig zum Essen und können uns gut unterhalten. Ohne dass einer dem anderen Vorhaltungen macht oder neidisch ist auf das, was er erreicht hat. Nach dem Motto: Was hast du, was habe ich? Oder: Papa liebte mich mehr als dich. Solche Dinge also, die komplett unnötig sind und die mich eigentlich nur verletzt hätten.
Leider hatten wir solche Zeiten, in denen sich mein Bruder damit gebrüstet hat, dass mein Vater ihn doch viel mehr geliebt habe als mich. Ich fand solche Sätze schon immer blöd. Weil ich davon überzeugt bin, dass ein Vater oder eine Mutter jedes der eigenen Kinder gleich stark liebt. Dem einen wird’s vielleicht mehr gezeigt, dem anderen weniger. Aber tief im Herzen fühlen sie für ihre Kinder gleich. Heute sagt mein Bruder solche Sachen nicht mehr. Wir haben uns versöhnt und sind im Reinen mit uns.
Kapitel 7:
Für Martin ist es so weit – Deutschland, ich komme!
Wie reagiert man, wenn man nach über fünf Jahren des Wartens und des Vermissens tatsächlich den Ausreisebescheid in Händen hält?
Es fällt mir schwer, meine Gefühle von damals in Worte zu fassen. Da war eine Rieseneuphorie. Einerseits die Freude darüber, das Land mit diesem kommunistischen System zu verlassen. Aber vor allem der Gedanke und die Erwartung, dass ich endlich meinen Vater wiedersehen würde. Dazu jede Menge Matchbox-Autos, die man in Deutschland einfach so in jedem Geschäft kaufen konnte. Das schrieb mein Vater jedenfalls gern in seinen Briefen. Matchbox-Autos! Ich war süchtig nach Matchbox-Autos und hütete meine kleine, bunte Sammlung wie meinen wertvollsten Schatz.
Oder Bananen. Wir wussten, wenn wir in Deutschland sind, bräuchten wir nur in einen Laden zu gehen, Geld auf die Theke zu legen, und dann könnten wir uns so viele Bananen oder Orangen kaufen, wie wir wollten. Einfach so. Das waren wir ja gar nicht gewohnt.
Das war also eine große Freude, aber auch gleichzeitig total traurig. Ich wünschte mir jahrelang einen Hund. Meine Mutter war irgendwann so genervt von meinem Gequengel gewesen, dass sie meinen Onkel Franz anrief und ihn bat, er solle uns einen Welpen vorbeibringen, wenn seine Schäferhündin Edith den nächsten Wurf habe. Zwei Wochen, bevor wir erfuhren, dass wir ausreisen dürfen, bekam ich also meinen eigenen, super süßen kleinen Schäferhund Egon. Er war extrem drollig und hatte verhältnismäßig große dunkle Ohren. Daran kann ich mich noch bestens erinnern. Er durfte bei mir im Bett schlafen und wich mir eigentlich nur dann von der Seite, wenn ich in der Schule war. Ich war damals gerade zwölf Jahre alt geworden und besuchte die fünfte Klasse. Es gab nur eine Schule, dorthin ging man von der ersten bis zur achten Klasse.
Doch kaum hatte ich endlich meinen Wunsch-Hund, musste ich ihn auch schon wieder hergeben. Sie können sich vorstellen, wie ich geweint und getobt habe. Ich war unendlich traurig, und nicht einmal meine geliebte Oma schaffte es, mich zu beruhigen. Aber was sollte ich machen? Es war uns nun mal nicht erlaubt, ein Tier mit nach Deutschland zu nehmen. Also musste ich schweren Herzens Abschied von meinem kleinen Liebling nehmen.
Auch meine Oma hat stark darunter gelitten, dass sie uns nun verlieren sollte. Für meine Mutter, meinen Bruder und mich war der Abschied ebenfalls nicht leicht. Ich kannte jeden einzelnen Bewohner unseres Dorfes. Meine ganzen Freunde, unsere Verwandten lebten dort. Damals war es ja nicht wie heute, dass man sich verabschiedet und in eine andere Stadt oder ein anderes Land umzieht und dann, so oft es geht, miteinander telefonieren oder skypen kann. Geschweige denn, sich besuchen. Damals sagte man tschüss zu seinen Liebsten und hatte nicht die geringste Ahnung, wann man sich wiedersehen würde. In zwei, fünf oder erst in zehn Jahren.
Meine Mutter, Damian und ich mussten mit unserem bisherigen Leben abschließen und uns auf ein ungewisses Leben in einem uns absolut fremden Land einlassen. Wir freuten uns zwar auf Vater, aber wir wussten nicht, ob er sich auch auf uns freute und wie er uns empfangen würde. Damals gab es ja keine Möglichkeit, per Computer miteinander zu telefonieren und sich dabei auf dem Bildschirm zu sehen. Es gab auch keine Handys, und nur die wenigsten Menschen besaßen ein eigenes Telefon. Telefonieren war nur alle paar Monate möglich, Briefe dauerten Wochen. Wir wussten nicht mal genau, wie Vater zwischenzeitlich aussah. Auch den Klang seiner Stimme hatten wir nicht mehr im Ohr. Dafür kreiste in unseren Herzen und Gedanken alles um die eine Frage: Was würde aus uns werden?
Wir verließen unsere Heimat im Februar 1983. Einen Monat nach meinem Geburtstag. Wenn man ausreiste, durfte man beim Schreiner große Holzkisten