Madame empfängt. Ursula Neeb
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»Ach, Fräuleinsche, ich will aber net auf die Gendarmerie! Könne Sie da net allein hingehen und denen erzählen, was ich Ihnen gesagt hab?«, erkundigte sich Rudi flehend.
»Nein, es ist wichtig, dass du mitkommst. Du brauchst dich doch nicht vor denen zu fürchten, du hast ja schließlich nichts ausgefressen, oder?«, bemerkte Sidonie schelmisch. »Komm, sei nicht so ein Angsthase, so kenn ich dich ja gar nicht. Außerdem bin ich ja dabei. Also sei bitte pünktlich. Ach, warte mal, hier hast du noch was.« Sidonie warf dem Jungen einen Apfel zu und begab sich wieder an ihr Schreibpult.
Fast trotzig blickte sie auf das Gemälde, das über dem Konterfei Hölderlins an der Wand angebracht war. Es stammte aus dem späten Mittelalter und war das Porträt ihrer Ahnin, Katharina Weiß von Limpurg, der Sidonie mit ihren kupferroten Haaren, der feinen, bleichen Stirn und den meergrünen Augen auffallend glich. Katharina war eine sehr gebildete, kultivierte Dame. Sie sprach und schrieb fließend Latein und verfasste Chroniken sowie eine Vielzahl gelehrter und erbaulicher Schriften. Sidonie, die sich seit ihrer frühen Jugend schriftstellerisch betätigte, war sie ein großes Vorbild.
Wundersam getröstet, ergriff sie ihre Feder und schrieb bis nach Mitternacht weiter.
Sidonie Weiß, die im ausgehenden 18. Jahrhundert als einzige Tochter einer vornehmen, aber verarmten Frankfurter Patrizierfamilie geboren worden war, schrieb seit nunmehr 35 Jahren und hatte in dieser Zeit über 20 Bücher veröffentlicht. Ihre Kriminalromane und Schauergeschichten erfreuten sich weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus großer Beliebtheit, bekannt war sie vor allem aber auch durch ihre Liebesgedichte. In den vornehmen Literarischen Salons Frankfurts, in denen Sidonie ihre Werke gelegentlich zum Vortrag brachte, fragte man sich im Stillen, wie es kam, dass eine blaustrümpfige, alte Jungfer, als die das Fräulein doch bei aller Liebenswürdigkeit gelten musste, in der Lage war, derart ergreifende Liebesempfindungen zu Papier zu bringen.
Sidonies Mutter starb kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter am Kindbettfieber. Als Sidonie fünf Jahre alt war, erlag ihr Vater der Schwindsucht. Die Waise fand Aufnahme in der Familie ihres wohlhabenden Onkels, Christian Koch, wo sie gemeinsam mit ihren drei Cousins und der drei Jahre älteren Cousine Susette aufwuchs und erzogen wurde. Susette war für Sidonie bald wie eine geliebte Schwester, und Sidonie wurde wie eine leibliche Tochter behandelt. Sie erfuhr alle Vorzüge eines wohlhabenden, großbürgerlichen Haushalts und erhielt eine Erziehung, wie sie höheren Töchtern zukam. Im Gegensatz zu ihrer hübschen Cousine Susette war Sidonie mit ihren roten Haaren, den vielen Sommersprossen und dem leichten Silberblick nicht gerade eine Schönheit. Während sich im Hause Koch die jungen Kavaliere um Susette förmlich zu drängen begannen, schätzte man die unscheinbare Sidonie wegen ihrer Gutartigkeit höchstens als liebe Freundin. Schon früh hatte sie sich, ohne je darüber zu murren, mit ihrer Rolle als Mauerblümchen abgefunden. Während andere junge Damen von nichts anderem als von Bällen und Gesellschaften sprachen, interessierte sich Sidonie nur für Bücher, was dazu führte, dass sie bereits in jungen Jahren außerordentlich gebildet war – weitaus gebildeter, als man es einer Dame der Gesellschaft zubilligte. Sie begann, Geschichten und Gedichte zu schreiben, und versäumte kaum einen Literarischen Zirkel, der in den großbürgerlichen Salons Frankfurts abgehalten wurde. Ihre ganze Liebe und Verehrung galt der Literatur, und sie hatte das große Glück, zahlreichen namhaften Dichtern und Gelehrten persönlich zu begegnen.
Als Susette schließlich den Frankfurter Bankier, Jakob Gontard, heiratete, holte sie Sidonie als ihre engste Vertraute zu sich in die Villa Gontard, um in dem riesigen, kalten Mausoleum, wie sie es zu nennen pflegte, nicht so allein zu sein, denn ihr Gatte verbrachte weitaus mehr Zeit in seinem Bankhaus als mit seiner jungen Gemahlin. Sidonie, die Susette förmlich vergötterte, stellte ihre eigene Existenz wie selbstverständlich in den Dienst der schönen Cousine. Sie stand ihr während ihrer Schwangerschaften bei und wurde der keineswegs glücklich verheirateten Susette zur Seelentrösterin. Im Jahre 1796 stellte Jakob Gontard für seine Söhne den jungen Friedrich Hölderlin als Hauslehrer ein. Schon bald verliebte sich der Dichter in Susette, die ihrerseits, mit ihrer Ehe unzufrieden, Hölderlins Zuneigung erwiderte und eine heimliche Liaison mit ihm einging. Die beiden Verliebten bemerkten nicht, dass Sidonie, Susettes guter Geist, auf ihre stille, verhaltene Art ebenfalls in den jungen Dichter verliebt war. Diese Liebe blieb für Sidonie ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Einzig ihrer Feder öffnete sie ihr Herz und ließ ihren Gefühlen so freien Lauf.
Als Gontard im Jahre 1800 schließlich von der Liebe seiner Frau zu dem Hauslehrer erfuhr, musste Hölderlin das Haus der Bankiersfamilie verlassen. 1802 starb Susette, die sich bei einem ihrer Söhne angesteckt hatte, an Röteln. Sidonie, die sich mit dem Hausherrn nie besonders gut verstanden hatte, zog daraufhin aus und siedelte in ihr Elternhaus in der Töngesgasse über, das in der Frankfurter Altstadt gelegen war. Zu diesem Zeitpunkt war sie längst im heiratsfähigen Alter, und ihr bleiches, sommersprossiges Gesicht mit den meergrünen Augen entbehrte nicht einer gewissen Anmut. So fand sich auch ein junger Verehrer, der die Schönheit von Sidonies Seele erkannte und sich in das zarte Geschöpf verliebte. Doch Sidonie, die ihr Herz unwiederbringlich an Hölderlin verloren hatte, lehnte den Antrag ab. Sie blieb unverheiratet, und inzwischen war sie zwar ein spätes Mädchen, mitnichten aber eine verbitterte, alte Jungfer. Neben der Schriftstellerei widmete sie sich der Armenfürsorge. Verwendete sie anfangs noch ihre eigenen, bescheidenen Mittel, den armen, kinderreichen Familien in der Nachbarschaft mit Milch, Lebensmitteln und Kleidern auszuhelfen, so war sie mittlerweile dazu übergegangen, wohlhabende Bürger für ihre mildtätigen Zwecke zu gewinnen.
Sidonie, die in Frankfurt allgemein nur ›das Fräulein‹ genannt wurde, war wie alle Ledigen und Alleinstehenden eine Außenseiterin in einer Gesellschaft, die das Familienideal über alles stellte. In den großbürgerlichen Salons bewunderte und schätzte man die Schreibkunst der Dichterin, empfand die freigeistige Intellektuelle indessen als suspekt. Nicht nur deshalb, weil sie bei gesellschaftlichen Anlässen mehr als schlicht, mitunter sogar nachlässig gekleidet war, war auch die Konversation mit ihr keineswegs so, wie man das in gehobenen Kreisen für angemessen erachtete. Sidonie Weiß galt als eigensinnig. Mit ihrer Meinung hielt sie nicht hinterm Berg und war weit davon entfernt, sich lieb Kind machen zu wollen. Ihre gelebte Devise, dem Gassenkehrer mit der gleichen Höflichkeit zu begegnen wie dem Bürgermeister, sorgte beim Frankfurter Großbürgertum, das gerne auch mit der hochdotierten Bundestagsdiplomatie aus dem Palais Thurn und Taxis gesellschaftlichen Umgang pflegte, für Unbehagen. Wollte man doch im Dunstkreis eines Fürsten von Metternich nicht etwa den Eindruck erwecken, man trage sich mit liberalem Gedankengut. Unverfänglicher dagegen waren für die tonangebende Oberschicht die Wohltätigkeitsaktivitäten des Fräuleins. In einer Stadt, der man nachsagte, dass nur das Geld den Lebensinhalt bestimme, war den Angehörigen des Geldadels durchaus daran gelegen, Bürgersinn zu beweisen, und zu allen Zeiten hatte man in Frankfurt eifrig gesammelt und gespendet, um Kultur und Wissenschaft zu fördern und die ärgste Not der armen Leute zu lindern – solange man das blanke Elend nicht vor der eigenen Haustür hatte. Sidonie hingegen, die mitten in der Frankfurter Altstadt lebte, war umgeben von armen, kinderreichen Familien. Und obgleich sie auch hier aufgrund ihres privilegierten Standes nicht richtig dazugehörte, war sie doch alles andere als ein distanzierter Zaungast.
Wirklich wohl fühlte sich Sidonie nur an ihrem Schreibtisch, was ihr jedoch nicht den Blick auf die Wirklichkeit trübte. Sie kannte die Elendsquartiere der Altstadt, in deren drangvoller Enge die Menschen zusammengepfercht waren wie Tiere im Stall. Und wenn es nicht die Schwindsucht war, die die Menschen hinwegraffte, war es der Branntwein. Um der ungesunden Beengtheit der Behausungen zu entkommen, verbrachten die Kinder oftmals den größten Teil des Tages auf der Straße. Die meisten Gassenkinder waren genau wie ihre Mütter gezwungen, mit dazuzuverdienen, denn der Lohn des Vaters reichte kaum für das Nötigste. Arbeiteten die Mütter stundenweise als Zugehefrauen oder Wäscherinnen in den Häusern der Höhergestellten, so fegten die Kinder Höfe, erledigten Botengänge und Besorgungen,