Madame empfängt. Ursula Neeb
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Die Menschen im Quartier begegneten dem Fräulein mit großem Respekt und wussten ihre Hilfe sehr zu schätzen. Dennoch hatte Sidonie häufig das Gefühl, mit ihrer Mildtätigkeit lediglich ›den berühmten Tropfen auf den heißen Stein‹ fallen zu lassen. Ein schreckliches Ereignis, das inzwischen zwei Monate zurücklag, trug dazu bei, dies noch zu verstärken: Am Morgen des 21. Juni 1836 entschloss sich Sidonie, die Gendarmerie zu verständigen, nachdem die kleine Tochter von Schneidermeister Lichtwerk mehrere Tage nicht mehr bei ihr gewesen war, und auch die Nachbarn der Lichtwerks aus der Kornblumgasse bestätigt hatten, die Familie schon tagelang nicht gesehen zu haben. Zuvor hatte das Fräulein noch die Wohnung der Schneiderfamilie aufgesucht, und als auf ihr Rufen und Klopfen keiner reagierte, war sie zur Hauptwache geeilt. Nachdem den Polizisten ebenfalls nicht geöffnet wurde, brachen diese die Wohnungstür auf und machten einen grausigen Fund: Der Schneidermeister, Joachim Christian Lichtwerk, lag mit durchgeschnittener Kehle in einer Lache getrockneten Blutes. Ebenso seine Frau Anna Christina sowie seine Töchter Anna Sophie Gertrude und Anna Christina von drei und anderthalb Jahren. Lichtwerk hielt noch ein blutiges Rasiermesser in der Hand. Er hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorging, dass er seine Angehörigen und danach sich selbst mit Vorbedacht und dem Einverständnis seiner Frau getötet hatte. Mit der Ermordung der hochschwangeren Ehefrau hatte er auch die Tötung der fast ausgetragenen Leibesfrucht verursacht. Das Kind war nicht mehr zu retten. Hauptursache der Tat war seinen Angaben nach existenzielle Not. Das Geschäft des Schneidermeisters war vom Niedergang bedroht. In seinem hinterlassenen Brief beklagte Lichtwerk, dass er seit vier Monaten die Miete nicht mehr hatte aufbringen können. Kein Kunde habe seine Schneiderrechnungen bezahlt, er sei von allen Seiten geprellt worden. So hatte er einen Tuchhändler betrogen, der ihn dann angezeigt hatte. Die Verurteilung stand unmittelbar bevor, als der erst 34-jährige Lichtwerk zu seiner Verzweiflungstat schritt.
Der tote Schneidermeister wurde für seine Mordtaten und die Selbsttötung noch einmal offiziell zum Tode verurteilt und in ungeweihter Erde begraben. Die Obrigkeit war über den Fall Lichtwerk zwar betroffen, zeigte sich jedoch bar jeden Mitgefühls. Die Presse reagierte ähnlich. In dem Frankfurter Journal, dem Frankfurter Konversationsblatt und der Frankfurter Kaiserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung wurde einzig Lichtwerks Bluttat verurteilt; dass es sich dabei um einen Akt purer Verzweiflung gehandelt hatte, hingegen mit keinem Wort gewürdigt. Sidonie war darüber so aufgebracht, dass sie einen Leserbrief an die Frankfurter Zeitungen schrieb, der jedoch unveröffentlicht blieb. In den darauffolgenden Wochen war das Fräulein sehr niedergeschlagen. Sie machte sich wegen der Lichtwerks schlimme Vorwürfe und hatte mehr und mehr das Gefühl, bei ihrem Kampf gegen die Armut auf der Stelle zu treten.
Kurz nachdem die Rathausuhr die zwölfte Stunde angeschlagen hatte, klopfte es sachte an der Tür von Sidonies Arbeitszimmer und Mathilde, des Fräuleins Aufwartefrau, trat ins Zimmer.
»Ich wollt Sie nicht stören, aber ich war grad noch mal unten in der Küch gewesen, und da hab ich gesehen, dass Sie noch Licht anhaben. Ei, Fräuleinsche, Sie müssen doch morgen früh raus. Gehn Se doch bald mal schlafen. Oder soll ich Ihnen grad noch was zu essen bringen?«, erkundigte sich die alte Frau fürsorglich, die angesichts der fragilen Statur des Fräuleins immerzu um deren leibliches Wohl besorgt war.
»Nein, nein, Tante Tilla. Ich hab wirklich keinen Hunger. Ich wollt auch bald ins Bett gehen. Komm, setz dich noch ein bisschen her, dann trinken wir zusammen ein Glas Wein, und du knetest mir ein bisschen den Nacken. Der tut mir von der Schreiberei nämlich wieder weh.« Sidonie streckte sich, gähnte ausgiebig, holte ein weiteres Glas vom Wandbord und schenkte nach. Mathilde Janz war Sidonies einzige Bedienstete. Seit nunmehr 30 Jahren war sie bei dem Fräulein in Stellung, und die Frauen kamen gut miteinander aus. Zuweilen kabbelten sie sich auch, wobei es meistens ums Essen ging. Denn die füllige Mathilde, die eine ausgezeichnete Köchin war, konnte es einfach nicht mit ansehen, dass das ohnehin so zerbrechlich wirkende Fräulein einen eher mäßigen Appetit hatte. Bei solchen, aber auch bei anderen, ähnlichen Anlässen, warfen sich die Frauen gerne vor, für wie starrsinnig und uneinsichtig sie einander hielten. Das Fräulein pflegte Mathilde dann als ›unverbesserliche Rechthaberin‹ zu betiteln, während diese Sidonie einen ›alten Dickkopf‹ nannte. In solchen Momenten glichen die beiden einem alten Ehepaar. Sidonie konnte mit der einfachen Frau über alles sprechen. Tante Tilla, wie die resolute, aber gutmütige Mathilde von allen im Quartier genannt wurde, war oft die Erste, der Sidonie Passagen ihrer Werke vorlas. Sie gab viel auf Mathildes Urteil. Nach Sidonies Dafürhalten besaß die alte, ungebildete Magd eine natürliche Intelligenz und ein untrügliches Gespür für schlüssige Zusammenhänge. Tante Tilla, ähnlich wie ihre Herrschaft, sagte gerne unumwunden ihre Meinung und sparte meist auch nicht mit Kritik, was Sidonie sehr an ihr schätzte. Beide waren unverheiratet und hatten keine Familie.
»Ob Sie da morgen viel erreichen, bei dem komischen Inspektor, da hab ich so meine Zweifel«, äußerte sich Mathilde mürrisch, nachdem sich die Frauen zugeprostet hatten. »Des ist auch kein richtiger Frankfurter. Der ist, glaub ich, erst seit einem Jahr hier. Soll ein Sauschwab sein, hab ich gehört.«
»Das ist mir ganz egal, wo der herkommt. Von mir aus kann der auch ein Rheinländer oder Sachse sein – solang’s kein Offenbächer ist. Aber Spaß beiseite: Hauptsache, der versteht sein Handwerk und läuft nicht mit Scheuklappen herum wie dieser Zeitungsfritze vom Frankfurter Konversationsblatt. Es ist doch nicht zu glauben, was der für einen Mist fabriziert hat«, ereiferte sich das Fräulein. »Genau wie damals, als man die Lichtwerks tot in ihrer Wohnung gefunden hat. Und jetzt haben wir in Frankfurt wieder einen tragischen Todesfall, und die Journaille hat abermals nichts Besseres zu tun, als das Opfer durch den Dreck zu ziehen und den Kopf in den Sand zu stecken. Gott, ich könnt mich grad wieder grün ärgern! Was weiß denn schon so ein feister Zeitungsschreiber von der Not der ledigen Mütter?«
»Dem sei Frau muss bestimmt net zum Engelmacher rennen, wenn sie in anderen Umständen ist!«, entrüstete sich auch Mathilde.
»Und das ist ja noch längst nicht das Schlimmste. Aus Angst vor der Schande ersticken manche unverheirateten Frauen sogar ihre Neugeborenen. Nicht selten kommt es vor, dass ihnen ihre Mütter dabei behilflich sind, damit nur ja keiner was merkt und der Ruf der Familie nicht ruiniert wird«, setzte Sidonie hinzu. »Oft sind es die Tapfersten, die ihre Kinder austragen und allein großziehen. Vor denen kann man nur den Hut ziehen, wo es ihnen doch von allen Seiten noch viel schwerer gemacht wird, als es den armen Leuten ohnehin geht. Und dann lässt dieser Schmierfink kein gutes Haar an dem armen Ding. Na ja, wie man es in Frankfurt hinlänglich kennt: Gegen die Blasiertheit und Ignoranz der Philister ist wohl kein Kraut gewachsen. Kein Wunder, dass so gute Leute wie der Börne und der Heine Frankfurt den Rücken gekehrt haben. Ich weiß noch, wie der Heinrich immer gesagt hat: Frankfurt ist mir verhasst. Die dortige Philisterei fürchte ich mehr als die Cholera«, zitierte Sidonie grimmig.
»Was heißt hier Cholera! Von meinem Quetschekuche konnt der doch nie genug kriegen«, erwiderte Mathilde trocken. Sidonie musste lachen.
»Ach, Tante Tilla, du kannst immer nur ans Essen denken!«
Wohlig vergraben in ihr Federbett, nahm sich das Fräulein für den morgigen