Lorettoberg. Volkmar Braunbehrens
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Noch während er betroffen neben seinem demolierten Fahrzeug stand, ratterten diese ersten Überlegungen durch seinen Kopf, nicht sonderlich systematisch, doch auch nicht verwirrt, dafür war er ein zu nüchtern denkender und kaum zu erschütternder Zeitgenosse. Schließlich fiel ihm etwas sehr viel Naheliegenderes ein und er suchte sein Handy aus der inneren Jackentasche. Aus dem anderen Brustfach nahm er ein kleines Adressbuch und schlug es auf.
»Meister Stalf«, er war sich sicher, an der Stimme gleich erkannt zu werden, »ich habe ein kleines Problem an meinem Fahrzeug, oder besser gesagt, es ist ein größeres. Können Sie mich Huckepack nehmen? Sie werden mich nämlich abschleppen müssen. Ein böser Mensch ist mir reingefahren. – Doch, es fährt noch, aber hinten ist ihm ein gefährlicher Flügel gewachsen, der weit heraussteht. – Natürlich, wenn Sie eine große Zange mitbringen. Aber da fällt mir ein: Haben Sie einen Fotoapparat? Man müsste das Auto vielleicht wegen der Versicherung erst fotografieren, im jetzigen Zustand. – Wirklich? Sie sind ein reizender Mensch, ich bin Ihnen sehr verbunden. Der Wagen steht gleich hundert Meter unterhalb meiner Wohnung. – Ja, im Kapellenweg. Wenn Sie gleich kommen, würde ich dort auf Sie warten. Aber es dürfte nicht zu lange dauern. – Ja, ich muss zu einer Sitzung. – Ach, Sie sind wirklich sehr hilfsbereit. Wenn ich Sie nicht hätte … – Großartig. Vielen Dank, sehr liebenswürdig.«
Otto von Hübner, sein Name lässt sich nicht länger verschweigen, lebte als Anwalt schon seit unvordenklichen Zeiten hier oben, allein im Haus mit Frau Ritter, einer weitläufigen Verwandten seiner verstorbenen Frau, die ihm auf diskrete Weise den Haushalt betreute, ohne allzu sehr in seine rüstige Selbstversorgung einzugreifen. Das Frühstück pflegte er sich selbst zu bereiten, mehrmals in der Woche aßen sie gemeinsam zu Mittag, aber stets nach vorheriger Verabredung, denn oftmals ging er auswärts essen. Im Grunde sorgte sie vor allem für seine Wäsche und sah auf Ordnung und Sauberkeit, im Übrigen war es mehr eine Wohngemeinschaft, in der jeder eigenen Interessen nachging, aber gelegentlich sah man beide zusammen im Konzert oder im Theater.
Eine eigene Kanzlei unterhielt er nicht, sein Büro war im Haus. Früher war er einmal Syndikus in einem Betrieb gewesen, hatte dann lange Jahre einen Wirtschaftsverband geleitet und war jetzt, als Pensionär, vor allem beratend tätig für manche großen Stiftungen, Familienbetriebe in ihren Erbauseinandersetzungen, vor allem aber für einige potente Investoren, bei denen sein Rat und seine Erfahrung in Handels- und Gesellschaftsrecht gefragt waren. Es waren dies sehr persönlich zu führende Mandate, bei denen der Schriftverkehr wenig umfänglich, die mündliche Beratung und Anwesenheit bei wichtigen Besprechungen jedoch unerlässlich war. Im Übrigen fand er die Unterstützung einer älteren, erfahrenen Schreibkraft, die ganz in der Nähe wohnte und sich am Ende ihres Arbeitslebens mit solchen freien, aber durchaus gut bezahlten Auftragsarbeiten begnügte.
Eine geregelte Arbeitszeit war mit seiner Beschäftigung nicht verbunden. Er stand zur Verfügung. Und das bedeutete oft mehrtätige Konferenzen auswärts, gelegentlich Besprechungen bis tief in die Nacht, auch lange Telefonate außerhalb jeder Geschäftszeit, sogar sonntags, von den Vorbereitungen in seiner einschlägig bestückten Bibliothek ganz zu schweigen. Mit dem juristischen Alltagsgeschäft hatte er nichts zu tun, eher mit langfristigen Strategien eines Konzernaufbaus, mit Nachfolgeregelungen, häufig auch mit den zugehörigen Fragen des Steuerrechts. Er war bekannt für seine pfiffigen und ungewöhnlichen Ideen, von deren Tragfähigkeit und realistischer Chance er oftmals erst zu überzeugen hatte.
Aber er genoss auch die Vorteile einer sehr freien Gestaltung seiner Lebensweise. Im Grunde war er ein Schöngeist, und Literatur und Kunst, auch Musik interessierten ihn mindestens ebenso wie seine Juristerei. Die persönliche Bekanntschaft mit Künstlern war ihm wichtig, gesellschaftliche Anlässe, bei denen Kunst und Geld zusammengeführt wurden, ließ er kaum aus, seien es Preisverleihungen, Ehrungen, Vernissagen oder Festivals wie Salzburg oder Baden-Baden. Um sich nützlich zu machen, versuchte er immer wieder, Künstler, Geldadel und Investoren dabei miteinander bekannt zu machen. Junge Talente zu fördern, war ihm ein besonderes Anliegen. Aber alles musste in einem festlichen Rahmen stattfinden, darauf legte er Wert. Diskretion und Öffentlichkeit schlossen sich nicht aus, ließen sich sogar nützlich verbinden. Er galt als ein Mäzen, aber sein eigener finanzieller Beitrag war dabei nicht einmal sehr groß. Nur war er in entscheidenden Momenten, wenn ein neues Projekt auszustatten war, immer dabei, gewissermaßen als Gründungsvater und als jemand, der die potentesten Geldgeber ansprechen, mitziehen und motivieren konnte. Den passenden Ton zu finden, Vertrauen zu gewinnen und die richtigen Leute zusammenzuführen – darauf beruhte sein Erfolg. Kein Wunder, dass er umworben war und in diesen Kreisen den besten Ruf genoss. Es wurde ihm gedankt, indem er als Erster zu allen spektakulären Gelegenheiten eingeladen wurde. Überall hielt man seine Anwesenheit für hilfreich und vorteilhaft. Bei längst ausgebuchten Hochglanzereignissen fand man für ihn immer noch einen Platz und natürlich in den vordersten Reihen.
Ein solcher Mensch ging auch mit den unangenehmen Zufällen des Lebens gelassen um. Dass ein geordnetes Leben von viel Unordnung umgeben und begleitet wird, war ihm eine selbstverständliche Einsicht in die menschlichen Unzulänglichkeiten. Nicht, dass ihm das gefiel, aber darum zu wissen, erleichterte ihm, es zu ertragen. Er gehörte zu jenen Schöngeistern, die auch mit der Exzentrik allen Künstlertums vertraut waren, den Abgründen, der Maßlosigkeit. Und insgeheim hatte er seine Bewunderung dafür. Zwar war er für sich selbst zu nüchtern, zu sehr Verstandesmensch und neigte zu keinerlei Exzessen. Schon einen richtigen Wutanfall mit törichten Ausfällen und überschäumenden Verwünschungen hätte er sich selbst nie verziehen. Sein Leben verlief überlegt, durchreflektiert, vorausschauend. Diese Selbstbeherrschung empfand er geradezu als Genuss und wenn er zur Selbstliebe je fähig war, dann gerade darin. Aber dass die meisten Menschen dieses Maß an Selbstkontrolle nicht aufbrachten, von allerlei Leidenschaften durchgeschüttelt wurden ebenso zu ihrem Verderben wie zu ihrem Vergnügen, hätte ihn nie dazu gebracht, sie deswegen zu verachten und sich selbst für etwas Besseres zu halten. Schlimmstenfalls versuchte er, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Als er gegen Spätnachmittag mit einem Taxi nach Hause kam und die Stelle passierte, an der einige Stunden vorher der Überfall geschehen war, gingen ihm alle Einzelheiten noch einmal wie ein Film durch den Kopf. Die beiden Schurken hatte er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen. Und doch hatten sie es gerade auf ihn abgesehen, daran hatte er keinen Zweifel. Wer auch immer dahinterstand, man wollte ihm wohl eine kleine Demütigung zukommen lassen. Und dies bedeutete, dass sie wohl nur die Handlanger dafür waren. Die Frage war nur, wer solche Auftragsganoven auf ihn hetzte. Darüber würde er nachdenken müssen. Hatte es mit der kleinen Konferenz zu tun, zu der er auf dem Weg gewesen war? Wohl kaum, wer konnte davon wissen? Nicht einmal Frau Ritter hatte er davon verständigt. Er pflegte seine Unabhängigkeit, indem er sie mit beiläufigen Einzelheiten seines Tuns und Lassens verschonte. Es sollte eine Beratung unter vier Augen sein, telefonisch verabredet, mehr nicht. Niemand sonst wusste davon. Oder ging es um etwas gänzlich anderes? Eine indirekte Warnung? Aber wem sollte sie gelten? Er war sich eigentlich ziemlich sicher, keine Feinde zu haben. Aber was waren Feinde? Ein etwas hochtrabendes Wort, so ungestüm ging es bei ihm nicht zu. Sicher, es gab immer Interessenskollisionen, gegensätzliche Auffassungen, Parteinahme.
Dem einen steht Nachbars Baum zu nah an der Grenze und lässt von den überhängenden Ästen auch noch das Laub herabfallen. Der andere will den Baum dennoch nicht beschneiden, weil er auf den Sichtschutz Wert legt. Ein Dritter ergreift Partei: Doch, der Baum muss weg, weil er mir die ganze schöne Aussicht nimmt. Und dann wird auch noch die Baumschutzordnung herangezogen, die das Fällen von Bäumen von einem bestimmten Stammumfang an verbietet. Schließlich mischt sich einer ein,