Lorettoberg. Volkmar Braunbehrens
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Lorettoberg - Volkmar Braunbehrens страница 5
Und mit Herrn Öcalan, dessen Akte Elfi aufgeschlagen hatte, war es nicht viel anders, ein Kurde, bei dessen Namen allein vermutlich schon sämtliche Alarmglocken in der Ausländerbehörde losbimmelten. Er war ständig von der Abschiebung bedroht, nicht einmal eine formelle Duldung hatte er bisher erreicht. Seine einzige Chance bestand darin, dass man der Ausländerbehörde irgendeinen Verfahrensfehler nachweisen konnte, der einen neuen kleinen Aufschub bedeuten konnte. Aber trotz der ökonomischen Katastrophe, die solche Fälle für die Kanzlei bedeuteten, verschafften sie doch eine tiefe moralische Befriedigung, wenn es gelang, sie von Quartal zu Quartal am Köcheln zu halten. Was nicht endgültig entschieden wurde, war schon ein halber Sieg, bedeutete es doch für die Mandanten, dass wenigstens eine endgültige Niederlage abgewendet wurde, die nur ausweglose Schicksalsschläge zur Folge haben konnte.
Aber darin waren Graber und Elfi sich völlig einig, dass sie dieses Anwaltsbüro nicht allein zum Geldverdienen betrieben, sondern mit dem Anspruch, Leuten zum Recht zu verhelfen, die auf ihre Hilfe angewiesen waren. Nicht weil sie unschuldig wären, sondern weil das Recht immer bedroht ist, sei es von der Bürokratie, einer eigensinnigen Staatsverwaltung, sogar von der Justiz selbst, sei es von der Macht des Geldes. Das Recht aber ist das Zentrum aller demokratischen und sozialen Errungenschaften, ist ihr Garant. Dies war die unausgesprochene politische Philosophie, die sie teilten, ein nicht zu verachtender Rest, der von den Träumen von einer besseren, freieren und gerechteren Welt übrig geblieben war. Sie beide hatten sich schon im Studium kennengelernt, einem Studium, das noch von der Aufbruchsstimmung der 68er-Zeit geprägt war, auch wenn sie der Generation danach angehörten. Damals waren sie einige Zeit eng zusammen gewesen, hatten zwar ihr Lager geteilt, es aber nie bis zu einer gemeinsamen Wohnung gebracht. Schließlich war die Sympathie wärmebeständiger geblieben als die Liebe. Beide hatten sie noch in der Volkszählungskampagne mitgewirkt, aber Elfi war dann andere Wege gegangen, hatte noch vor dem Juraexamen ihr Studium abgebrochen, war nach Frankfurt gezogen, hatte einige Jahre in Galerien gejobbt. Erst Jahre später hatten sie sich zufällig wiedergetroffen, beide nicht gerade vom Erfolg verwöhnt, von Karriere konnte man ohnehin nicht sprechen. Graber hatte es in einigen Kanzleien als Anwalt versucht, sich aber nie wohlgefühlt und manchmal hatte er auch den Eindruck, dass ihm die lukrativeren Fälle immer von den Kollegen weggeschnappt wurden. So hatte er den riskanten Entschluss gefasst, lieber allein im eigenen Büro zu arbeiten. Elfi, ein paar Jahre jünger als Graber, nun Mitte 40, suchte gerade eine Veränderung und hatte sich bereit erklärt, Graber das Büro zu führen. Er hätte keine Bessere dafür finden können.
Frau Müller rutschte unruhig auf ihrem Stühlchen herum, wahrscheinlich wäre sie am liebsten wieder in das Büro gestürmt und hätte das Wort an sich gerissen. Elfi beobachtete sie unauffällig und war zu jeder Schlichtung bereit, als plötzlich das Telefon klingelte. Sie meldete sich mit dem ausgeleierten Sprüchlein, das ihr gedankenlos aus dem Mund flutschte:
»Anwaltspraxis Graber. Sie sprechen mit Elfriede Schamberger. Was kann ich für Sie tun?«
Eine geschmeidige Stimme meldete sich mit überdeutlicher Aussprache:
»H-ü-b-n-e-r. Kann ich Herrn Kollegen Graber sprechen?«
Sie war bei unbekannten Anrufern von größter Aufmerksamkeit und das Wort ›Kollege‹ hatte sie nicht überhört. Sie brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde in ihrem Gedächtnis zu kramen, um dann nachzufragen:
»Darf ich fragen, sind Sie Herr von Hübner?«
»Ganz recht.«
Es war nicht so, dass ihm der zusätzliche Namensbestandteil unwichtig gewesen wäre, er legte sogar großen Wert darauf, dennoch meldete er sich am Telefon stets nur mit ›Hübner‹, nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern sogar gänzlich unbescheiden. Denn im Grunde erwartete er, dass man ihn kannte und ihn sogleich ›vollständig‹ anredete. Kam es einmal vor, aber das war selten genug, dass er in einer ihm fremden Umgebung gezwungen war, sich selbst vorzustellen, pflegte er überdeutlich zu sagen: »Hübner, Otto von Hübner.« Es sollten keine Missverständnisse aufkommen.
»Einen Moment bitte, ich verbinde.«
Doch zunächst drückte sie auf die Unterbrechertaste und meldete sich bei Graber:
»Da ist ein Herr von Hübner in der Leitung.«
»Kenn ich nicht.«
»Vorsicht! Erzähle ich dir später. Wirtschaftsanwalt, ein hohes Tier.« Sie hatte sehr verhalten ins Telefon gesprochen, merkte aber, dass Frau Müller aufmerksam herübergeschaut hatte.
Graber war nicht ganz schlau geworden, was dieser Kollege wirklich von ihm wollte, es schien um einen Verkehrsunfall zu gehen und darum, dass er um die Mittagszeit zufällig in der Stadt sei und in der Kanzlei vorbeischauen könne. Natürlich wollte er keinen Termin vereinbaren (so sind solche Herren, aber das Wartezimmer mögen sie auch nicht, sondern rauschen am liebsten gleich ins Büro durch, ›nur auf ein Wort‹). Andererseits konnte es ein neues Mandat bedeuten, immerhin einen ordentlichen Versicherungsfall, und da soll man sich nicht anstellen. Natürlich hatte er Zeit (und würde notfalls sogar auf ihn warten).
Das musste er aber keineswegs. Gerade nachdem Graber Herrn Öcalan mit aufmunternden Worten verabschiedet hatte, kurz nach halb eins, kam Herr von Hübner ins Büro. Ganz gegen ihre Gewohnheit fragte Elfi weder nach Namen noch nach Begehr, sondern nahm ihm nach der Begrüßung sogleich den Staubmantel ab und öffnete die Tür zum Büro. Verwechslungen waren nicht möglich, ein solcher Besucher hatte sich noch nie in ihre Kanzlei verirrt. Die ganze imposante Erscheinung, groß, würdevoll, dabei aber höchst umgänglich und mit heiterem Strahlen im Gesicht, spiegelte einfach eine andere Liga als das sonstige Publikum. Sie hatte Graber schon zuvor instruiert mit allem, was ihr aus ihrer Frankfurter Galerienzeit erinnerlich war, und das war eigentlich nur vom Hörensagen. Natürlich vorwiegend aus der Museums- und Kunstszene. Und dass er mit wirklich allen führenden Wirtschaftsleuten persönlich bekannt sei. Rechtsanwalt, ja, aber ohne eigene Kanzlei. Was er tatsächlich arbeite und für wen, das wisse niemand. Da müsse schon eine Menge Kohle sein, jedenfalls gelte er als ein großer Kunstmäzen.
Elfi ging vor, Hübner folgte nur zögerlich, weil er sich ungeniert umsehen und einen optischen Eindruck von der Kanzlei gewinnen wollte, dann stellte sie Graber den Gast vor (statt umgekehrt). Sie dachte, dass es so richtig und geboten sei, schließlich kam er als Mandant, und selbst ein sehr bescheidenes Anwaltsbüro müsse auch eine gewisse Selbstsicherheit ausstrahlen. Die unverkennbare Verlegenheit Grabers, die sie sogleich bemerkte, überspielte sie, indem sie dem Besucher einen Kaffee anbot.
»Das ist reizend von Ihnen, vielen Dank, aber so kurz vor dem Mittagessen …«
Die Erzählung Herrn von Hübners von der eindeutig provozierten Beschädigung seines Autos am Vortag war sehr anschaulich durch blumige Ausschmückungen. Insbesondere das vulgäre Benehmen des bulligen Fahrers – »Silberkette und Gefängnishaarschnitt« – schilderte er mit köstlichem Humor. Er zeigte sich dabei keineswegs beunruhigt, nahm es eher als einen Ganovenstreich von Leuten, mit denen er sich eigentlich nicht abzugeben pflege oder gemeinmachen wolle, aber ganz durchgehen lassen könne man so etwas natürlich auch nicht. Graber versuchte, sich die Szene vorzustellen, war sich aber nicht sicher, ob er an seiner Stelle nicht in panische Angst geraten wäre. Aber dann interessierte ihn vor allem, wer dahinterstecken könnte. Wenn es keine persönlichen Feinde gab, wie Herr von Hübner versicherte, müsse man vielleicht an einen terroristischen Hintergrund denken. Indem er es aussprach, erschrak Graber sogleich, dass er selbst ein so abgedroschenes Vorurteil, wie es sich nur die Boulevardpresse ausdenken konnte, ins Gespräch brachte. Er bekam auch sogleich eine Abfuhr:
»Unsinn.