Der evangelische Patient. Fabian Vogt

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Der evangelische Patient - Fabian Vogt

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Und doch kann sich glücklich preisen, wer diesen Schmerz noch verspürt. Denn das bedeutet, dass unsere Instinkte noch funktionieren, dass es einen Bereich unserer Seele gibt, der sich mit der vorgeblichen Wirklichkeit nicht arrangieren will. Wenn wir diesen Schmerz gar nicht mehr empfinden, bedeutet das, dass wir aufgegeben haben … und dass wir den Glauben verloren haben, dass es über diese vorfindliche Wirklichkeit hinaus noch andere Möglichkeiten gibt. Solange der Schmerz noch brennt, besteht Hoffnung. Es gibt wirklich gute Gründe, warum Jesus fragt: »Willst du gesund werden?«

      Zwei Geschichten, eine Aussage: Wenn wir lange genug auf einer Matte festliegen, legt am Ende die Matte uns fest. Das gilt für den Mann am Teich wie für die Frau, die nicht mehr aufstand. Und es gilt leider auch für unsere Kirche.

       Der evangelische Patient

      Es wird Zeit, dass wir auf jenen Patienten zu sprechen kommen, um den es in diesem Buch gehen soll. Wo liegen die Parallelen zwischen dem Kranken am Teich Betesda und dem »evangelischen Patienten«, der protestantischen Kirche? Wir zögern etwas, diesen Punkt näher auszuführen. Schließlich wollen wir unser Nest nicht beschmutzen und fragen uns, wie wir der Kirche, die wir schätzen und lieben, hier einen Spiegel vorhalten können, ohne sie bloßzustellen und zu beschämen. So ganz vermeiden lässt sich das vermutlich nicht. Deshalb ist uns wichtig, dass wir uns selbst von diesem schmerzhaften Blick in den Spiegel nicht ausnehmen. Die Kirche, von der wir reden und die der Heilung bedarf, ist nicht »irgendwo da draußen« oder »irgendwer anders«, sondern das sind erst einmal wir selbst. Und in diesem Sinne bitten wir Sie auch, dieses Buch zu lesen.

      Was also verbindet den Kranken am Teich Betesda mit dem »evangelischen Patienten«? Zunächst einmal sehen wir eine Parallele in der Beschreibung seiner Krankheit als »Kraftlosigkeit« (astheneia). In der Tat scheint Kraftlosigkeit ein Grundproblem unserer Evangelischen Kirche zu sein. Zwar ist sie immer noch ein starker Player in der Gesellschaft, wenn es beispielsweise um sozialdiakonische Fragen geht, um Mitsprache in Rundfunkräten und Ethikkommissionen, um das Engagement von über einer Million ehrenamtlich tätiger Menschen. Und doch ist die Kirche in Westeuropa heute in vielerlei Hinsicht erstaunlich kraft- und wirkungslos.

      Äußerlich lässt sich diese Diagnose relativ einfach belegen: Jahr für Jahr treten etwa eine viertel Million Menschen aus der Evangelischen Kirche aus. Die Tendenz scheint derzeit eher zu steigen. Gleichzeitig nimmt der Gottesdienstbesuch ab. Die Finanzkraft schwindet, und wir haben in vielen kirchlichen Berufen ein Nachwuchsproblem. Lassen wir es bei diesen kurzen Hinweisen. Zumindest äußerlich gesehen ist es eindeutig, dass die Kirche schwächer wird und nicht stärker.

      Innerlich sieht die Sache aber leider nicht besser aus. Im Gegenteil: Immer weniger Menschen können sich mit dem identifizieren, was wir als Kirche tun oder sagen. Das gilt nicht nur für die Menschen außerhalb der Kirche, sondern auch für unsere eigenen Mitglieder. Als »Indifferenz« bezeichnet die letzte (fünfte) Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung diese Einstellung der mit Abstand größten Gruppe innerhalb der evangelischen Bevölkerung: Kaum jemand kennt mehr die Bibel oder lebt gar mit ihr – und zwar bis in unsere Kirchenvorstände hinein. Die meisten Evangelischen beten höchstens noch in Notzeiten. Und das »Allgemeine Priestertum«, demzufolge alle Getauften berufen sind, das Evangelium weiterzugeben, findet kaum irgendwo mehr statt. Auch diese Liste ließe sich problemlos erweitern.

      Es ist mit Händen zu greifen, dass unsere Kirche ihre Kraft verloren hat. Das macht sie als »evangelischen Patienten« vergleichbar mit dem Kranken aus unserer Geschichte. Und die große Frage ist, wie wir aus dieser Situation herauskommen. Ganz offensichtlich kann dies nicht aus eigener Kraft geschehen – Kraftlosigkeit ist ja gerade das Krankheitsbild, um das es in unserer Geschichte geht. Zwar kommt auch diese Erzählung an einen Punkt, an dem der Kranke aufgefordert wird, etwas zu tun. Aber zuerst muss er sich auf einen (etwas unangenehmen) Dialog mit Jesus einlassen. Er muss seinem Zustand ins Auge schauen und zudem die bisherigen Rezepte, nach denen er versucht hat, gesund zu werden, loslassen und sich ganz und gar dem Wort Jesu anvertrauen.

       Die unangenehme Frage

      »Willst du gesund werden?« Eigentlich, möchte man meinen, ist diese Frage eine Unverschämtheit. Sowohl dem Kranken in unserer Geschichte gegenüber – als auch in Hinblick auf unsere eigene Kirche. »Lieber Jesus«, möchte man antworten,»hast du dir mal überlegt, was wir in den letzten Jahren an Anstrengungen unternommen haben, deine Kirche zu retten und irgendwie am Laufen zu halten? Natürlich wollen wir gesund werden!« Die Frage Jesu »Willst du gesund werden?« scheint hier nicht wirklich zielführend zu sein. Auch der Kranke beantwortet sie nicht direkt. Seine Antwort klingt teils empört, teils resigniert, teils ausweichend – und passt auch auf unsere Situation.

      »Herr, ich habe keinen Menschen, der mich zum belebenden Wasser trägt.« Es fehlt einfach an einer Person, einem Reformator, einer Bischöfin, einer Kirchenleitung oder prophetischen Gestalt, die uns sagt, wo es langgeht, und die die Kirche so zielsicher führt wie einst Mose sein Volk durchs Schilfmeer und die Wüste. Oder wir sagen: »Herr, natürlich wollen wir gesund werden. Und das tun wir ja auch: indem wir uns ‚gesundschrumpfen‘. Was am Ende dieses Prozesses übrigbleiben wird, ist der ›ehrliche Kern‹ unserer Kirche. Du wirst sehen: Noch ein paar Jahre Rückgang, dann ist unsere Kirche kerngesund.« Oder: »Herr, siehst du nicht, wie sehr wir uns bemüht haben? Unsere Ideen sind am Ende und unsere Kraft ist erlahmt. Wir wollen uns künftig mit bescheidenen Zielen zufriedengeben. Hast du nicht selbst gesagt: ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen‘?«

      Ich (Klaus) bin – nennen Sie es Zufall – seit achtunddreißig Jahren beruflich in der Kirche tätig. Also genau so lange, wie der Patient aus unserer Geschichte krank darniederlag. Was hat es in dieser Zeit nicht alles an Initiativen gegeben, die Kirche zukunftsfähig zu machen! Wie viele Gremien haben in dieser Zeit getagt, wie viele Gesetze wurden erlassen. Was wurde nicht alles auf den Prüfstand gestellt: Leitbilder, Personalschlüssel, Zuweisungssysteme, Verwaltungs- und Leitungsstrukturen, Gottesdienstformate, Gemeindezuschnitte und vieles mehr. Vor dem Jahr 2017 gab es eine ganze »Dekade der Reformation« mit abertausenden Veranstaltungen, Impulsen und Ideen. Wenn man der Kirche eines nicht vorwerfen kann, so scheint es, ist es ihr mangelnder Reformwille.

      Und in der Tat haben wir es durch geschicktes Management und viele schmerzhafte Einschnitte geschafft, ein finanzielles Desaster zu verhindern. Doch viele Haupt- und Ehrenamtliche sind in dieser Zeit ausgebrannt. Sie können angesichts des ständig wachsenden Drucks einfach nicht mehr. Gleichzeitig konnten wir den äußeren Relevanzverlust der Kirche nicht stoppen. Im Gegenteil: Das allgemeine Desinteresse an dem, was wir sagen oder tun, steigt scheinbar immer weiter. Es ist wie ein Teufelskreis: Wir bemühen uns nach Kräften, von unserer Matte hochzukommen, doch führt das oft nur dazu, dass wir am Ende umso müder darauf zurücksinken.

       »Mehr desselben«

      Das Ganze erinnert ein wenig an Paul Watzlawicks Ausführungen zu Lösungen erster und zweiter Ordnung. In seinem Buch »Anleitung zum Unglücklichsein« erzählt er den alten Witz von dem Betrunkenen, der unter einer Straßenlaterne verzweifelt nach seinem verlorenen Schlüssel sucht. Ein freundlicher Polizist kommt daher und hilft ihm. Als sie nichts finden, fragt der Polizist: »Sind Sie sich ganz sicher, den Schlüssel hier verloren zu haben?« Darauf antwortet der Betrunkene: »Nein, nicht hier, sondern dort hinten. Aber da ist es viel zu dunkel zum Suchen.« – Wenn Menschen ein Problem haben, neigen sie dazu, sich noch mehr anzustrengen – und zwar in die gleiche Richtung. Watzlawick nennt das »Lösungen erster Ordnung«. Eine »Lösung zweiter Ordnung« hingegen würde bedeuten, etwas völlig anderes zu tun, wenn etwas dauerhaft nicht funktioniert. Logisch, oder? Albert Einstein soll einmal gesagt haben, es sei geradezu die Definition von Irrsinn, immer wieder

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