Der evangelische Patient. Fabian Vogt
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der evangelische Patient - Fabian Vogt страница 7
Eine herausfordernde Vorstellung, die sich übrigens sofort auf unsere Fragestellung übertragen lässt: »Erwarte ich eigentlich noch, dass Gott mich heilen kann?« Erwarten wir als Kirche noch, dass Gott uns heilen kann? Eine wichtige Klarstellung für alle Glaubenden … und ein nötiger Selbsttest: »Was erwarte ich von Gott?« … »Was traue ich ihm überhaupt noch zu?«
Aber schauen wir uns erst noch einmal das Geschehen in der Synagoge an. Denn es lohnt sich, jetzt ganz genau hinzugucken: »Als Jesus die verkrümmte Frau sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: ‚Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit!‘« Punkt. Jesus spricht ein wirkmächtiges Wort, er sagt der Verkrümmten mit all seiner Vollmacht Erlösung zu … und … nichts passiert. Oh! Verrückt, oder?
Dieser kranken Frau wird vom Sohn Gottes Heilung für ihr Leiden verheißen, aber das reicht offensichtlich nicht. So, wie es anscheinend auch nicht reicht, dass jeden Sonntag in Deutschland von Tausenden von Kanzeln den Menschen die Botschaft von der Liebe Gottes verkündet wird. Das »Wort allein« scheint selbst bei Jesus nicht genug zu sein. Zumindest nicht bei einer verkrümmten Persönlichkeit, die nicht mehr damit rechnet, dass sie Heilung erfahren kann. Deren Erwartung so gering ist, dass sie inzwischen eine Art Schutzschild um sich aufgebaut hat. Es braucht mehr. Und genau das passiert jetzt auch.
Die Kunst, den anderen zu »berühren«
»Und er legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.« Darum geht es: Das Geheimnis dieser Heilung ist die Berührung. In dem Augenblick, in dem Jesus die Frau mit seinen Händen berührt, geschieht das Wunder. Das heißt nicht, dass man sich in allen Gottesdiensten von nun an ständig anfassen soll (wobei es nicht schaden könnte, Menschen öfter segnend die Hände aufzulegen). Vielmehr lenkt es den Blick auf die Frage: »Wie können wir sicherstellen, dass das, was wir in der Evangelischen Kirche anbieten, die Menschen berührt?« Und: Wann tut es das – und wann nicht?
Weil wir später sowohl bei der Heilung der blutflüssigen Frau, als auch bei der Heilung des Aussätzigen auf den Aspekt der Berührung noch näher eingehen, hier nur einige kurze Anmerkungen: Selbstverständlich können auch Worte allein berühren, aber wir finden nach wie vor auf vielen unserer Kanzeln vor allem (zweifellos kluge) Erläuterungen, akademisch prägnante Ergüsse oder herzige Veranschaulichungen. Diese sind jedoch selten von der Frage geleitet: »Was in diesem Predigttext und was in meiner Auslegung hat die Kraft, Menschen zu berühren und zu verändern?« Oder um im Bild der Heilung zu bleiben: »Wie können wir den Menschen im Gottesdienst mit Worten, Gesten oder Symbolhandlungen ›die Hände auflegen‹ – und zwar so, dass sie davon ›angerührt‹ werden?« Und: Haben wir den Mut, uns einzugestehen, dass wir in unseren Veranstaltungen viel seltener Menschen berühren, als es der Fall sein sollte?
Immerhin, ein Pfarrkollege erklärte vor einigen Jahren erschreckend ehrlich: »In meinen Gottesdienst würde ich auch nicht gehen.« Und die Nachfrage ergab, dass der Kollege das, was er jeden Sonntag laut Kirchenordnung zelebrieren sollte, weder für sich noch für die Gemeinde als »berührend« empfand. Eine der Herausforderungen (nicht nur für die Predigt, sondern für das Gottesdienstgeschehen an sich) wird deshalb ein neues Bewusstsein dafür sein, wie unser Tun Menschen existentiell erreicht. Es geht nicht um Informationsvermittlung, sondern um Relevanz – und um Transformation: Ist das, was wir miteinander feiern, für die Frauen und Männer, die da gekommen sind, von existentieller Bedeutung? Hat es die Kraft, etwas in ihnen zu bewegen?
Das gilt übrigens auch für unsere Geschichte von der verkrümmten Frau: Es ist relativ uninteressant, ob und wie Jesus vor 2000 Jahren einer Kranken geholfen hat, wieder aufrecht zu gehen, wenn ich als Leserin oder Leser nicht glaube und erwarte: »So ein wundervolles Aufrichten, das kann auch mir widerfahren.«
Eines zumindest ist den meisten bewusst: Berührend wird ein Gottesdienst vor allem dann, wenn ich als Besucherin oder Besucher nicht nur Konsumentin oder Konsument, sondern Teilhaberin oder Teilhaber bin. Wenn es einen Unterschied macht, ob ich da bin oder nicht. »Interaktivität« heißt hierbei das Zauberwort. Natürlich kann es auch in liturgischen Formen und in gemeinsamem Gesang zu berührenden Erlebnissen kommen, trotzdem lohnt es sich immer, über weitergehende partizipative Elemente nachzudenken. Die Frage ist also: Wie wird aus der kommunikativen Einbahnstraße vom Altarraum in die Gemeinde ein Dialog, in dem die Gäste sich als prägenden Teil des Gottesdienstes erleben?
Übrigens passiert das auch in unserer Heilungsgeschichte: Indem Jesus die Frau zu sich ruft, sie anspricht und ihr die Hände auflegt, holt er sie aus ihrer passiven Rolle heraus und ruft sie in eine aktive Rolle. Während sie vorher nur erwartungslose Predigthörerin war, ist sie jetzt hoffnungsvoll in das Geschehen eingebunden – schon deshalb, weil sie dem Ruf Jesu folgt und zu ihm läuft.
Darum ist es ganz logisch, dass sie nach ihrer Heilung begeistert anfängt, Gott zu loben. Aus der passiven, in sich gekrümmten Kranken, die erst aus ihrem Schneckenhaus herausgerufen werden musste, ist eine aktive, selbstbewusste Person geworden, die sich nicht mehr darum schert, was die Leute um sie herum über sie denken. Sie fängt einfach an zu jubeln. Mitten in der Synagoge. Im Gottesdienst. Als Frau. Und ihr ist völlig egal, ob sich das so gehört oder nicht oder ob eigentlich Jesus als Prediger gerade das Wort hat; sie kann gar nicht anders, als ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.
Jetzt mal unter uns: Wie wäre das, wenn in unseren Gottesdiensten öfter mal Menschen aufstehen und jubeln würden, weil sie das Wirken Gottes am eigenen Leib erfahren haben? Weil sie berührt wurden? Wir wissen: Das klingt ziemlich »charismatisch«. Und wir tun uns auch schwer, wenn Menschen den Frohsinn zum Dauer-Ritual machen. Aber die »Heilung der gekrümmten Frau« zeigt: Wenn Menschen von Gott berührt werden, dann fangen sie an zu jubeln. Und das sollte in einem Gottesdienst selbstverständlich sein. Da hilft es nichts, stattdessen Loblieder zu singen, deren Botschaft die Gesichter, Herzen und Hände der gottesdienstlichen Gemeinde offensichtlich nicht erreicht.
Wir besuchten vor einigen Jahren mit einer kleinen afrikanischen Delegation einen evangelischen Gottesdienst in Deutschland. Die Gruppe verstand kein einziges Wort Deutsch … und war deshalb vollständig darauf angewiesen, die Körpersprache sowohl des Pastors als auch der beteiligten Gemeindeglieder zu lesen. Ihre erschütternde Rückmeldung danach war: »Wenn wir es nicht gewusst hätten, wären wir nie darauf gekommen, dass es sich bei diesem Geschehen um einen Gottesdienst handelt. Wir haben weder Freude noch Liebe noch Leidenschaft gespürt.«
Zur Selbsterkenntnis der Evangelischen Kirche gehört vielleicht tatsächlich auch das Eingeständnis, dass bei uns erstaunlich wenig gejubelt wird. Was möglicherweise daran liegt, dass unsere Gottesdienste oft wenig Grund dazu liefern. Diesen Umstand sollten wir schleunigst ändern.
Der evangelische Patient
Nun steht da eine beseelte Frau und freut sich aus ganzem Herzen, dass sie wieder aufrecht gehen kann. Halleluja! Und was passiert: Der Synagogenvorsteher fängt an sich zu beschweren. So wie in unseren Gemeinden vermutlich auch einige Leute verstört gucken würden, wenn jemand neben ihnen einen Freudentanz aufführen würde.
Symbolisch gesprochen geschieht hier folgendes: Die geheilte Frau richtet ihren Blick weg von sich selbst (worauf er wegen ihrer Verkrümmung 18 Jahre lang gerichtet war) hin zu Gott – und der Vertreter der Institution holt sie zurück in die Niederungen des religiösen Betriebs. Was sich vor allem darin zeigt, dass er erstaunlicherweise weder Jesus noch die Frau angreift, sondern die gesamte Gemeinde, die er mit harschen Worten daran erinnert, was sich gehört und was nicht: »Da