Der evangelische Patient. Fabian Vogt

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Der evangelische Patient - Fabian Vogt

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Kirche schwach sehen möchte. Niemand, der einen anderen Menschen liebt, möchte ihn schwach sehen. Vielmehr möchte er, dass dieser Mensch gesund ist und vital und dass er vor Lebenskraft und Lebensfreude strotzt. Gott sei Dank ist Jesu Kraft auch und gerade in den Schwachen mächtig. Trotzdem, ja gerade deswegen spricht er dem Gelähmten Mut und Kraft zu: »Steh auf, nimm deine Matte und geh!«:

      •»Nimm deine Matte, denn du kannst das. Im vertrauenden Blick auf Jesus und im Gehorsam gegenüber seinem Wort. Du kannst das, denn meine (Jesu) Kraft ist in den Schwachen mächtig. Du kannst das, wenn du dein Vertrauen nicht auf dich selbst und deine Tradition, sondern allein auf Gott und sein Wort setzt.«

      •Sodann: Nimm deine Matte, denn du sollst das. So wie Jesus den Profifischern Petrus, Jakobus und Johannes nach einer Nacht, in der sie keinen einzigen Fisch gefangen haben, den Befehl gibt, ihr Netz noch einmal ganz anders auszuwerfen – gegen alle Regeln der Kunst (Lukas 5,4-7), so beauftragt er nach endlosen Reformversuchen auch uns, ernst zu machen mit der Tatsache, dass wir Kirche der Reformation sind und dass Reformation – nicht Reform – eine bleibende Aufgabe unserer Kirche ist.

      •Und schließlich: Nimm deine Matte, denn du darfst das. In unserer Geschichte entzündet sich an diesem Auftrag der gesamte Widerspruch der Gegner Jesu. Und sie führen dabei nicht nur die heilige Tradition ins Feld, sondern auch den vermeintlichen Willen Gottes selbst. Jesus aber sagt: »Du darfst das«: Du darfst das, was die anderen und vielleicht auch du selbst bisher für das Wort Gottes und für heilige Tradition gehalten haben, einmal gegen den Strich bürsten. Es neu abwägen und neu gewichten – nicht im Geist der Aufsässigkeit, sondern im Geist des Vertrauens dem Wort Jesu gegenüber. Nicht, weil es darum geht, um jeden Preis revolutionär zu sein, sondern weil uns unsere Kirche am Herzen liegt und wir nichts sehnlicher wollen, als dass sie vor Lebenskraft und Lebensfreude strotzt.

      Und er lehrte in einer Synagoge am Sabbat. Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach: »Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit!« Und er legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott. Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: »Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.« Da antwortete ihm der Herr und sprach: »Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Musste dann nicht diese, die doch Abrahams Tochter ist, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?« Und als er das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.

      2.Wie man ungeahnte Perspektiven gewinnt

       Die verkrümmte Frau – Lukas 13,10–17

      Was für eine Geschichte! Eine Frau läuft 18 Jahre lang verkrümmt durch die Welt. 18 Jahre … das galt damals als Dauer einer ganzen Generation. 18 Jahre lang lebt die Kranke nicht »aufrecht«, 18 Jahre lang schaut sie nicht nach vorne, sondern auf ihre Füße, nicht nur nach unten, sondern vor allem nach »innen«, auf sich selbst. Ja, diese Frau sieht – im wahrsten Sinne des Wortes – nur noch sich selbst. Das bedeutet zugleich: Dadurch wirkt sie für andere viel kleiner, als sie in Wirklichkeit ist. Und auch ihre Wahrnehmung der Welt ist begrenzter, als sie sein müsste.

      Wenn das kein Bild für eine Institution ist, der Kritiker seit langem vorwerfen, sie kümmere sich vor allem darum, ihren eigenen Betrieb am Laufen zu halten. Der Zeit-Redakteur Tilmann Prüfer jedenfalls erklärt sehr direkt: »Die evangelische Kirche ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt.« Nach innen schauen, die Weite der Möglichkeiten nicht mehr wahrnehmen, sich um sich selbst drehen, mit eingeschränktem Horizont leben: Für all diese Phänomene steht die verkrümmte, Frau, die vor 2000 Jahren in einer Synagoge auf Jesus trifft.

      Übrigens hat diese Heilungsgeschichte schon damals das »Wieder-Aufrichten« einer ganzen Institution im Blick: Die Entwicklung der Handlung macht nämlich deutlich, dass es hier auch um ein verkrümmtes Selbstbild von Gemeinde geht. Dies wird durch den Synagogenvorsteher (dem örtlichen Vertreter der Institution) symbolisiert, der die Anwesenden nach dem Wunder heftig anschnauzt, wie sie es denn wagen könnten, gegen die Traditionen des religiösen Betriebs (die bestimmte Heilungen am Sabbat verbieten) zu verstoßen. So endet das Ganze in einer Diskussion darüber, dass eine Glaubensgemeinschaft sehr wohl die Konzentration auf das Wesentliche verlieren kann, wenn sie nur noch ihre internen Abläufe sieht – eben, weil sie in sich »verkrümmt« ist.

      Es ist dabei wichtig, dass wir den Synagogenvorsteher als Vertreter einer festgefahrenen Institution sehen und nicht als allgemeinen Repräsentanten des Judentums. Jesus hat regelmäßig betont, dass er sich als Gesandter für das Volk Gottes versteht. Das heißt: Er denkt und handelt niemals antijudaistisch, sondern bekämpft grundsätzliche menschliche Fehlentwicklungen, die Gottes Heilshandeln im Wege stehen. Genau deshalb werden (wie wir in späteren Kapiteln sehen werden) oftmals auch die Jünger als negatives Beispiel angeführt: Sie sind es, die Kindern, Notleidenden und Fremden den Zugang zu Jesus durch ihr Verhalten erschweren. Man könnte sogar sagen, dass es in Heilungsgeschichten erstaunlich oft um das Aufeinandertreffen zweier Prinzipien geht: das lebendige Wort Gottes gegen die vielen menschlichen Verkrustungen.

      Insofern haben die beiden Teile dieser Erzählung aus dem Lukasevangelium das gleiche Thema: Was muss passieren, damit etwas »Verkrümmtes« (die Frau und die Institution) wieder »gerade« wird, damit »Innen-Orientiertes« wieder »außen-orientiert« wird, damit etwas »Mit-sich-selbst-Beschäftigtes« wieder »über den Tellerrand« blicken und die Weite des Glaubens wahrnehmen kann? Damit sozusagen ein »umgekehrter Hexenschuss« stattfindet? – Schauen wir uns das mal an.

       Das Geheimnis der Verkrümmung

      Wissenschaftler überlegen seit langem, ob die verkrümmte Frau wohl eher Skoliose, Osteoporose oder eine Psychoneurose hatte. Antwort: Das ist für die Geschichte irrelevant. Das Neue Testament nennt als Ursache ihres Leidens wörtlich: »Sie hatte einen Geist der Schwachheit!« Eine prägnante Formulierung, die (ähnlich wie im oben behandelten Wunder) deutlich macht, dass hier Ursache und Wirkung fast austauschbar sind: Ist die Frau verkrümmt, weil sie schwach ist … oder ist sie schwach, weil sie verkrümmt ist?

      In unserem Fall: Ist die Evangelische Kirche schwach, weil sie nur mit sich selbst beschäftigt ist … oder beschäftigt sie sich nur mit sich selbst, weil sie schwach ist? Egal! Die entscheidende Botschaft lautet: »Um-sich-selbst-Kreisen« ist ein Zeichen von Schwachheit. Die Frau zumindest ist so schwach, dass es von ihr heißt: »Sie konnte sich selbst nicht mehr aufrichten!«

      Traurigerweise ist die Frau so sehr in sich verkrümmt, dass sie von sich aus gar keinen Versuch wagt, mit Jesus in Kontakt zu kommen. Viele Heilungsgeschichten im Neuen Testament erzählen davon, wie Menschen sehnsuchtsvoll auf Jesus zustürmen, weil sie sich von ihm Hilfe erhoffen. Doch diese Frau ist derart auf sich fixiert, dass sie die Quelle ihrer Rettung zwar wahrnimmt, aber nicht als solche identifiziert. Mit anderen Worten: Die Frau hört das Evangelium, erwartet aber anscheinend nicht, dass diese Botschaft für sie Konsequenzen haben könnte.

      Die skurrile Szenerie erinnert uns an ein Seminar über »Gottesdienste«, in dem wir die Teilnehmenden zu Beginn neugierig gefragt haben: »Wer von Ihnen erwartet eigentlich noch, dass Gott im Gottesdienst spürbar und erfahrbar wirkt?« Von den etwa 40 Anwesenden meldeten sich … zwei! Die anderen Frauen und Männer des Seminars erklärten anschließend zwar auch, dass es grundsätzlich zu ihren Hoffnungen gehöre, dass Gott im Gottesdienst gegenwärtig sei. Dass er aber

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