Gonzo. Matthias Röhr
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So oder so hat sich das Lied einen der vordersten Plätze in den ewig langen Ranglisten der Lieblingslieder der Fans gesichert.
Diese vielen unterschiedlichen Menschen. Sie alle liegen sich in den Armen, feiern zusammen. Oder sie tanzen und pogen miteinander. Aggressionen? Fehlanzeige. Wer hier, nach dieser Abfahrt, noch Lust verspürt, anderen auf die Fresse zu hauen, dem ist eh nicht mehr zu helfen. Der ist bei den Böhsen Onkelz an der falschen Adresse.
Dopamin wird freigesetzt. Und das in rauen Mengen. Wo wären diese Menschen heute alle, gäbe es die Böhsen Onkelz nicht? Und wo wäre ich?
Heute 37 Jahre alt, habe ich diese Band vor über 23 Jahren für mich entdeckt. Als Teenager. Als linker Querdenker, dessen musikalische Sozialisation Die Toten Hosen, Die Ärzte und, Achtung, PUR übernommen hatten. Und immer wieder stand ich vor dem CD-Regal mit dem „O“ im Laden meines lokalen Plattendealers in Kamp-Lintfort. Und dort sah ich jedes Mal vier Menschen auf dem Cover der Heilige Lieder, die nach allem aussahen, aber ganz sicher nicht nach Nazis. Dennoch, ich durfte die Onkelz nicht gut finden. Das gehörte sich nicht. Die Bands aus Düsseldorf und Berlin pflanzten ein Bild der Abscheu in mein Gehirn; aber dieses Coverfoto … Es ließ mich nicht los.
An anderen Tagen las ich mir nur die Tracklistings auf den Rückseiten der Alben durch, und meine Neugier wuchs. Von Tag zu Tag.
Irgendwann im ausgehenden Jahr 1996 kaufte ich mir die E.I.N.S. Zu diesem Zeitpunkt war ich vierzehn Jahre jung, und vierzehn ist ein mächtiges Alter. Eines der Jahre, die Eltern vermutlich gern schnell wieder vergessen würden. Und als ich daheim die CD einlegte, der Bass und die Gitarre von „Danket dem Herrn“ einsetzten, spürte ich diese ungeheure Kraft. Aber erst mit Kevins ersten Worten, mit: „Danket dem Herrn, euer Elend geht zu Ende. Das Warten ist vorbei, jetzt wackeln die Wände“, verliebte ich mich, ohne Scheiß, vom Fleck weg. Und so wie mir geht es vermutlich Tausenden anderen Fans.
Vielleicht ja auch Dir?
Aber wo waren wir?
Beim Scheinwerferlicht. Schweiß rinnt an Matthiasʼ Stirn herunter. Das Konzert läuft, und er ist jetzt ganz und gar in seinem Element. Erde, Wasser, Feuer, Luft – und die Energie einer Onkelz-Show. Die Kulisse ist unvergleichlich. Und das, obwohl die Onkelz schon so viel gesehen haben. Der Ruhrpott, meine Heimat, kann es einfach!
2018 hatte, neben einem großen Festival in Leipzig, zwei gigantische Shows in zwei wunderschönen Stadien zu bieten. Frankfurt – Matthiasʼ Heimat. Gelsenkirchen, stellvertretend für das Ruhrgebiet – meine Heimat.
Die letzten Minuten einer jeden Show gehören zwar uns allen, die dort vereint, singend und tanzend, das Leben zelebrieren, aber sie fühlen sich für Matthias „Gonzo“ Röhr anders an als die vorherigen. Intimer.
Als wäre der Architekt der Zeit vorbeigeflogen. Als hätte dieser Typ gegrüßt und schelmisch gelacht, um dann von seiner Zeitmaschine abzusteigen und ganz kurz an den Reglern der Realität und Relativität zu schrauben. So lange, bis das große, eigentlich stabile Kartenhaus, das unser Gehirn als die Gegenwart identifiziert, fragmentiert ist. Nur, um dann einfach wieder abzuhauen.
Matthias schließt die Augen. Er öffnet sie wieder. „Auf gute Freunde“ ist vorbei und damit schon Vergangenheit, obwohl die Zukunft gerade noch vor uns lag.
Nichts ist relativer als die Zeit auf einem Onkelz-Konzert. Am Ende dauerte der Song gerade mal einen gefühlten Wimpernschlag lang. Und das ganze fast dreistündige Spektakel dieses Abends verflog mit der Geschwindigkeit eines Warp-Antriebs.
Das, was ihn am meisten beindruckt, ist die Symbiose, deren Zustandekommen bei jeder Show gelingen will, die die Böhsen Onkelz spielen. Und im Kern dieser symbiotischen Vereinigung pulsiert mit tausendfachem Herzschlag das Leben von unzähligen Menschen.
So viele Seelen. So viele einzelne Schicksale, Beweggründe und Abzweigungen, die jeden Einzelnen von uns zu der Person gemacht haben, die er heute ist. Dich und mich und uns. Ein Konglomerat aus Gutem und Schlechtem. Aus Ausgehaltenem und Durchgemachtem. Aus Freude, Liebe, Hass, Wut, Leidenschaft und Energie. Herumgeschleppt in unseren Körpern, verwurzelt im Herzen, verankert in den Seelen.
„Was wir sind, sind wir zusammen.“
Wie oft gab es diese dummen, selbstverliebten Schlaumeier, die der Band – und damit auch uns – sagen wollten, wie wir sein sollten. Pausenlos scheppern die Stimmen derjenigen aus den Boxen des Lebens, die uns den Weg in ein völlig individuell gestaltetes Leben mit eigenen Gedanken und einem eigenen Wertesystem verwehren wollen.
Benimm dich! Pass dich an! Abitur? Haben wir heute im Angebot. Gern auch schon nach zwölf Jahren. Lerne etwas Ordentliches! Wähle die richtige Partei! Guck Fernsehen, und – ach, wo du schon mal da bist – bitte auch die Werbung. Und schau mal hier: Es gibt neue Angebote im Media Markt. Eine „0 Prozent Finanzierung“ des neuesten Smartphones! Probleme? Ach, du hast gar keine Ausbildung, keinen Schulabschluss, keine Arbeit? Hier, ein neues Auto, gern zu einem niedrigen Zinssatz, darf es aber schon sein, oder? Und wenn du zu fett bist, mach ich dich krasser. Und wenn du hässlich bist, mach ich dich sexy. Und dann klappt es – mit ein bisschen Hungern und zum Leidwesen deiner Gesundheit – vielleicht auch mit Heidi Klums Suche nach dem nächsten Topmodel. Oder Bohlens Suche nach dem nächsten Superstar. Das könntest alles du sein!
Ehrlich, ich empfinde aufrichtiges Beileid für die Menschen, die sich derart vom System, von der Industrie und ihren arschleckenden, anzugtragenden Helfern verdummen lassen. Und ich hoffe, nein, eigentlich weiß ich, dass der Spirit der Onkelz genau den Kontrapunkt im Leben der Fans gesetzt hat, den sie benötigten, um sich von all den Zwängen, Konformitäten und Absurditäten loslösen zu können.
Entscheidend ist, dass du nicht vorhast, dumm und angepasst zu bleiben. Dumme Menschen werden irgendwann im Laufe ihres langen, vor Selbstmitleid, Schuldzuweisungen und Kummer armen Lebens dumme Dinge tun. Auch das ist ein Gesetz.
Matthias „Gonzo“ Röhr, das wird das Buch zeigen, konnte nicht immer seine eigene innere Stimme gegen die Dummheit erheben. Auch er musste lernen, lieben, leiden, leben. Aber das, was er an Erfahrungen im Laufe seiner 57 Jahre machen konnte, hat ihn empathischer und intelligenter werden lassen. Und gab ihm irgendwann Macht über die Dummheit.
Bei beiden Bands, zu denen er gehört, gibt es zwei Stimmen, die doch irgendwie eine sind. Keine parteipolitische Stimme, nein, eher eine mit gesellschaftlichem Gewicht. Die Stimme, die den Teufeln, die sich auf deine breiten Schultern gesetzt haben, auf die kleinen roten Finger haut. Die das Gegengewicht zu den Einflüsterungen ist, die wir jeden Tag ertragen müssen. Von oben und unten. Von rechts und links. Die Onkelz sind für viele Menschen diese Stimme. Für mich ebenso.
Schlagen wir der schizophrenen Gesellschaft ins Gesicht, und bekämpfen wir sie mit dem Mittel, das schon vor Hunderten von Jahren ganze Länder und Kontinente umgekrempelt hat: mit der Kunst. Und im Fall der Onkelz und der Matt „Gonzo“ Roehr Band mit der Musik. Du hast dich, per Definition und Selbstverständnis beider Bands, dazu entschieden, ein Teil des großen Ganzen zu sein. Herzlich willkommen. Nichts wird dir das jemals wegnehmen können.
Es gehört zu dir. Und damit gehören auch die Musiker zu dir – und du zu ihnen. Und daraus resultiert ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt, den ich so unglaublich finde. Nimmt man das große, fette Onkelz-Monster und legt es unter ein Mikroskop, dann wird klar, was ich meine. Seziert man das Biest und schaut sich dessen Bestandteile an, versteht man das, was Unwissende und Oberschlaue nur gedanken- und planlos als „Phänomen“ abhandeln.
Unter der Lupe wird klar, dass sich Fans und Band zwar nicht kennen,