Gonzo. Matthias Röhr

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Gonzo - Matthias Röhr

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viele hippe Menschen schreiben noch im Jahr 2019 über die großen Themen der noch hipperen Gesellschaften, in denen sie sich verlustieren. In Berlin, Düsseldorf, Köln, München und anderen Metropolen hocken sie über ihren MacBooks und geben Tipps zur besseren Lebensgestaltung in Blogs und Netzwerken.

      Entschleunigung. Zeitmanagement.

      Wer sich in Dublin länger aufhält als einen Augenblick lang, der entschleunigt von allein. Der braucht keinerlei Experten, die einem dazu raten. Die einem zeigen, wie man sich ausruht.

      Zeitmanagement spielte hier überhaupt keine Rolle, weil die Zeit vermutlich auf keinem Flecken der Erde weniger Bedeutung besaß als in Irland. Hier lebte jeder nach seiner eigenen Uhr. Kühe und Schafe weideten auf schier unendlich großen Wiesen, und irgendwo, ganz weit weg, hörte man Autos fahren. Allerdings nur dann, wenn man sich auf sie konzentrierte.

      Mir schoss beim Anblick unseres Hotels, das den ganz wunderbaren Charme eines mittelalterlichen Schlosses besaß, unmittelbar durch den Kopf, dass wir uns an einem Ort befanden, an dem man sowohl das Leben in jungen Jahren genießen als auch sich ganz hervorragend im Alter zur Ruhe setzen konnte. Ich kannte ähnlich prächtige Bilder nur von meinem privaten Schottland-Urlaub, der aber zu diesem Zeitpunkt schon ganze einundzwanzig Jahre zurücklag. Hier war das Leben so leicht und schwerelos wie eine Feder im Wind.

      Dublin bot im Spätsommer gemäßigtere Temperaturen als zu anderen Jahreszeiten. Die Schwere des industriellen, die Leichtigkeit des urbanen und die Zeitlosigkeit des maritimen Charakters der Stadt goutieren Touristen besonders gern im September und Oktober. Dann neigt sich die Hochsaison gerade ihrem Ende entgegen, die Pubs leeren sich, und die Chance, einen Mietwagen zu bekommen, ist weitaus größer als im Sommer.

      Zu viert saßen wir auf einer großen, steinernen Terrasse bei Familie Röhr. Matthias und seine langjährige Frau Verena, liebevoll Vreni genannt, hatten eingeladen, und gemeinsam redeten wir über Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Es duftete ganz vorzüglich nach gutem Essen. Der Geschmack eines süffigen Weins lag mir noch auf der Zunge. Es war der Abend unseres ersten Tages, und ich überlegte, wie das, was wir in den vielen zurückliegenden Stunden besprochen hatten, adäquat zu Papier gebracht werden könnte. Jedes der zahlreichen Gespräche zu diesem Buch galt es, gewissenhaft aufzuzeichnen. Die essentiellsten der unzähligen Informationen, Anekdoten und kleinen, aber feinen Erinnerungen wurden verarbeitet und ergeben das große Ganze.

      Ich erinnere mich noch sehr gut an eines der ersten Gespräche, die wir mit Matthias führten. Natürlich ging es irgendwann auch um den Hintergrund seines Spitznamens, der ihn schon seine komplette Karriere über begleitet. Der an ihm hängt und immer mit ihm verbunden sein wird. Ob er will oder nicht.

      Kein Matthias und auch kein Röhr ohne „Gonzo“. Nach ein paar Gläsern Rotwein und dem üppigen Essen Vrenis lockerte sich die Stimmung. Es brauchte immer ein paar Anläufe, um in einen Redefluss zu kommen, der ermöglichte, frei und ungezwungen zu erzählen. Und meistens funktionierte das besser, wenn man sich dabei sah. Wenn man Auge in Auge beieinandersaß. Der eine redete, die anderen hörten zu.

      Es war schon spät. Müdigkeit hatte sich breitgemacht. Marco und ich waren, nach einer langen Wanderung, dem Besuch einer ganz außergewöhnlichen Kirche inmitten Dublins und vielen Anekdoten – eine besser als die andere –, müde. Dass Rotwein und herzhafte Speisen noch zur leichten Dösigkeit beitrugen, konnte ebenfalls nicht geleugnet werden. Es war dennoch nicht die Zeit, um schlafen zu gehen. Nicht nach Matthiasʼ Ansicht.

      „Hier geht niemand ins Bett. Ich habe euch doch noch gar nicht erzählt, wie ich an meinen Spitznamen gekommen bin“, sagte er und lachte dabei. Es war die Sorte von Versprechen, bei dem man wusste, dass es da jemandem sehr wichtig war, was er mitteilen wollte. Ein schelmisches – „Ihr habt das Beste doch noch gar nicht gehört!“ – Grinsen. Man erwartete von seinem Gegenüber, dass es die Ohren spitzte. Na gut, dachte ich mir, erschöpft und eher wenig gespannt, erzähl uns die Geschichte, die eigentlich jeder schon kennt. Die man schon Hunderte Male gelesen hat. Nur zu. Leg los. Matthias musste mein Gesichtsausdruck aufgefallen sein, denn noch bevor sich mein Mund öffnen konnte, sagte er: „Es ist eben nicht so gewesen, wie ihr vielleicht bislang immer geglaubt habt. In Wirklichkeit, und ihr seid tatsächlich die Ersten, die das erfahren werden, war es ganz anders.“

      Damit triggerte er mein Interesse. Mit „die Ersten, die es erfahren werden“ und „in Wirklichkeit war es ganz anders“ hatte er mich beim Schopfe gepackt. Jetzt war von Müdigkeit keine Spur mehr. Marco erging es ähnlich, das sah ich ihm sofort an.

      Wir wollten mehr wissen!

      1976 wurde ein Schlüsseljahr für Matthias Röhr. Mao Zedong starb im September, und mit ihm verreckte eine lang andauernde chinesische Kommunisten-Diktatur, die zwar keinen Fortschritt, dafür aber den Tod Hunderttausender Menschen brachte.

      Im Westen hingegen nichts Neues. Helmut Schmidt blieb, mit einem Siegeslächeln auf und einer Kippe zwischen den Lippen, Bundeskanzler der Bundesrepublik.

      Jimmy Carter wurde zum Ende des Jahres zum neuen US-Präsidenten gewählt, und nur Monate vorher, im Sommer 1976, suchte man in Jugoslawien den Fußball-Europameister. Der Traum der Titelverteidigung, er war für die Elf von Helmut Schön zum Greifen nah. Man kämpfte sich bis ins Finale und dort bis ins Elfmeterschießen vor, das man – unter anderem aufgrund eines Unglücksschusses von Uli Hoeneß – schlussendlich 5:3 gegen die Tschechoslowakei verlor. Randnotizen. Mehr nicht.

      Das alles spielte seinerzeit in der hessischen Provinz kaum eine Rolle. Matthias fieberte natürlich mit der deutschen Mannschaft mit, das Interesse an Politik generell und China im Besonderen hätte allerdings kaum geringer sein können.

      Entsprechend des Alters, er war jetzt vierzehn (die mächtigen Jahre hatten begonnen), fingen auch die schulischen Leistungen an, abzusacken. Oder besser noch: Sie befanden sich im freien Fall. Physik, Chemie (das von einem Ausbilder der Höchst AG unterrichtet wurde, der ihm dabei half, dieses Fach fast noch schlimmer zu finden als jedes andere) und Mathematik waren ihm ein absoluter Graus.

      Wofür werde ich den ganzen Scheiß jemals brauchen, fragte er sich unentwegt, währenddessen sein Kopf, bleischwer und unter Schmerzen, über kryptischen Formeln und bizarren geometrischen Figuren brütete, die sich ihm partout nicht erschließen wollten.

      Niemals und für gar nichts werde ich diesen Quatsch brauchen, war die einzig richtige Antwort. Das wusste Matthias sicher. Und ebenfalls, dass er unbedingt – besser heute noch als morgen – Kontakt zu Gleichgesinnten aufnehmen musste, deren Interessen sich mit seinen deckten: Gitarren, Amps, lauter Rock.

      Matthias wollte spielen. Musik machen. Ein bisschen die Luft der großen weiten Welt schnuppern. Aber zum Teufel, er gab einen Scheiß auf binomische Formeln. Der Satz des Pythagoras durfte ihn am Arsch lecken. Gravitation kannte er von alten Frauen, deren Brüste so tief hingen, dass sie den Erdboden berührten. Und das Periodensystem? Konnte das bluten?

      Der Realschulzweig, für den sich seine Eltern entschieden hatten, erwies sich spätestens ab der neunten Klasse als fieses, autoritäres Monster mit scharfen Zähnen, das immer dann zubeißen wollte, wenn jugendliche Unbeschwertheit, Rebellion und Liebe zur Musik die Oberhand gewannen.

      Dann wurde seitens des Lehrpersonals gedroht, getadelt und gemaßregelt. Einschüchterungsversuche erwachsener Personen, deren Auffassung von Päda­gogik eine ganz andere war als heute. Anstrengend und enervierend. Leistung wurde verlangt und abgerufen. Man bekam keine einzige gute Note geschenkt. Lernen und Erfolg waren Kopf- und Konzentrationssache, außerdem musste man sich zusätzlich gut (durch-)quälen können.

      Ferner gab es keine Ausreden für Faulheit.

      Doch trotz aller

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