Gonzo. Matthias Röhr
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Led Zeppelin, Rush und unzählige weitere Bands wurden auf deren Shows abgefeiert und angefeuert. Vor allem aber wurden sie beobachtet. Matthias stand selten mitten im Publikum, noch viel seltener oben auf den Rängen, sondern nahezu immer direkt vor der Bühne und betrieb fleißig „Augenklau“. Fasziniert wanderten dann seine Blicke von links nach rechts. Vom Bassisten zum Gitarristen, und dann, wenn es richtig im Magen kribbelte, weil die Bassdrum drückte, schaute er ganz genau auf den Drummer.
Im Geiste speicherte er alles ab, was er hörte und ihm eine krasse Gänsehaut bescherte, um es anschließend zuhause nachzuspielen. Darin konnte der junge Röhr eine fast schon pedantische Geduld und Genauigkeit an den Tag legen. Erst, wenn das Solo oder das Lick einwandfrei reproduziert werden konnten, wurden sie für Zuhörer adaptiert. Die Kunst lag allerdings darin, sie nicht bloß eins zu eins zu kopieren. Die Gefahr, die im reinen Covern der Lieblingskünstler lag, erkannte er schon damals. Das katastrophale Ergebnis der Bands, die ausschließlich so agierten, konnte man auf vielen Dorffesten, bei Scheunenfeten und in diversen Jugendzentren hören. Null Prozent eigene Kreation, hundert Prozent Kopie.
Das war nicht das, was Matthias wollte. Sein Bestreben lag nicht im Kopieren. Nicht 1979, nicht 1999 und auch nicht 2019. Unselbstständigkeit und Stillstand waren ihm schon als Jugendlicher verhasst. Der Kelch des Nachspielens und der damit verbundenen schleichenden Mutation zum Cover-Gitarristen ging glücklicherweise an ihm vorüber. Und das hatte einen einfachen Grund. Beherrschte man die Songs einmal gründlich, legte man sie einfach erneut auf und improvisierte selbst, während im Hintergrund der Original-Track auf dem Plattenteller seine Runden drehte. Matthias spielte dann seine ureigenen Interpretationen der glorreichen Mid-Seventies-Rockbands. Die schon erwähnten Black Sabbath und Stones waren genauso dabei wie Sweet, Slade, Lynyrd Skynyrd oder die Faces. Und er war schnell darin, zu lernen und zu improvisieren.
Irgendwann zu Beginn des Jahres 1979 spielte er in der Band Sinner. Zu jener Zeit warf der Punk schon seine Schatten voraus. Lange schwarze Haare, Lederjacken, Wrangler-Jeans mit 45er-Schlag, Sonnenbrille und ein dahinter lauernder „Leckt mich alle am Arsch“-Blick.
Herr und Frau Röhr entzündeten kein Tischfeuerwerk, als sie ihren Sohn das erste Mal so nach Hause kommen sahen. Seine Bandkollegen sahen ähnlich wie er, aber doch anders aus. Grauer Parker, Kiffer-Scheitel, rote Jeans, Adidas-Sneakers.
Oliver, Schulkamerad und Drummer von Sinner, schminkte sich das Gesicht weiß, zog die Mundwinkel mit schwarzem Kajalstift nach unten und gab den desillusionierten, traurigen Clown zum Besten. Zwei Jahrzehnte, bevor Brandon Lee als „The Crow“ mit einem ähnlichen Outfit zur Kultfigur wurde.
Martin Röhr, heute Schlossermeister und seit vielen Jahren verheiratet, wurde 1965 geboren und ist Matthiasʼ kleiner Bruder. Einer von drei „kleinen Brüdern“. Bis zum großen Durchbruch der Onkelz 1991 arbeiteten die beiden Röhrs bei derselben Firma in Frankfurt. Heute wohnen er und seine Frau Anna in einem kleinen, beschaulichen Vorort von Frankfurt am Main. Martin erinnert sich heute gern an diese Zeit zurück, in der alles möglich war. Die mittleren Siebzigerjahre tauchten während unserer Gespräche immer wieder sonnenwarm vor seinem inneren Auge auf. Sprach man mit ihm, veränderte sich leicht, aber hörbar, seine Stimmlage. Er erzählte frei über seinen Bruder Matthias, den Rockstar.
„Für mich war Familie immer das Wichtigste. Und ich habe eigentlich immer versucht, die Familie zusammenzuhalten“, sagt er. „Die wilden Jahre und die langen Haare. Das hat oft für wenig Gelächter bei uns zuhause gesorgt. In Liederbach gab es sonntags beim Mittagessen eigentlich immer die Gespräche mit Matthias. Unser Vater konnte da schon sehr penibel sein, wenn ihm was nicht gepasst hat. Das lief dann so ab, dass wir uns, nachdem mein Vater von der Arbeit zurück war (sonntags war die Gaststätte des Vaters immer von morgens bis mittags für den Frühschoppen geöffnet), zum Mittagessen zusammensetzten und nach kurzer Zeit die ‚Moralpredigt‘ losging: ‚Junge, die Haare müssen ab‘, sagte er immer. Und mein Bruder hat dann immer genickt und so getan, als höre er ihm zu. Tat er natürlich nicht. Wenn man Matthias kannte und wusste, was ihn interessierte, dann sah man auch schnell, dass bei ihm die Standpauken und Belehrungen unseres Vaters eher weniger taugten. Das ging sogar so weit, dass unser alter Herr bei ihm selbst Hand anlegen und die Haare schneiden wollte. Im Grunde genommen war es Joachim ein Graus, seinen ältesten Sohn so zu sehen. Und da war natürlich auch diese beständige Angst mit im Spiel, dass Matthias jetzt oder irgendwann Drogen nehmen könnte. Unsere Eltern waren ja nun vom Fernsehen und den Zeitungen vorgewarnt. Die wussten, dass eine lange Mähne und amerikanische Rockmusik dazu geeignet waren, die damalige Jugend zu verderben …“
Martin erinnerte sich auch an die Versuche seiner Eltern, das Bild der heilen Familienwelt nach außen hin zu wahren: „Wir waren eine klassische deutsche Familie, in der alle Kinder so einen Topfschnitt hatten. Gerader Pony, Topf auf den Kopf, rundherum abschneiden. Und Matthias war derjenige, der irgendwann niemanden mehr an seine Haare ranließ. Er war da auch eigentlich Vorreiter bei uns im Dorf, denn jeder der Gleichaltrigen hatte noch diese 0815-Frisur. Auf jeden Fall war das Phase eins in der Rebellion meines Bruders, zu der sich noch – wie wir alle wissen – jede Menge weiterer Phasen dazugesellen sollten. Für meine Eltern war immer total wichtig, was andere Leute über uns dachten. Dieses typische Nachkriegsding eben: Man wollte um jeden Preis vermeiden, dass schlecht über die Familie geredet wurde. Sauberer Vorhang. Das war extrem wichtig. ‚Mach dies nicht, tu jenes nicht. Was sollen Oma und Opa dazu sagen? Dreh die Anlage leiser, und überhaupt, was sind das denn für primitive Typen, denen du da zuhörst?‘ Das war Matthias aber, der zu der Zeit ja schon mächtig am Pubertieren war, schnell scheißegal. Da wurden dann auch gern mal mit Absicht die Zimmertüren zugeknallt oder vor der Haustür, damit es alle Nachbarn deutlich mitbekamen, Widerworte gegeben.“
Auf die Frage, wie er das Verhalten seines Bruders zu dieser Zeit bewerte, sagte Martin: „Schwierig. Matthias hatte ja bei uns im Haus im Keller sein Zimmer. Und man hat ihn innerhalb des Hauses verhältnismäßig wenig gesehen. Im Grunde genommen gab es für ihn schon zu dem Zeitpunkt nichts Wichtigeres als Musik. Da waren schon die Jeans angemalt, da stand auch schon AC/DC auf seinem Rucksack. Als ich dann älter wurde, bin ich auch gern mal mit in den Proberaum von Headliner und Sinner gefahren und habe mir dort angeguckt, was die Jungs so treiben. Das hat Matthias auch schon so ein bisschen Spaß gemacht, das hat man gemerkt. Es gab Phasen, da haben wir viel zusammengesessen und in seinem Zimmer abgehangen, und dann gab es wieder Momente, wo wir uns fast gar nicht gesehen haben. Aber ich wusste eigentlich immer, dass ich mich auf meinen großen Bruder verlassen konnte. Das hat sich bis heute nicht geändert.“
Matthias blühte auf. Seine ganze Galaxie verschob sich, dehnte sich aus, und plötzlich, so schien es ihm, gab es keine Grenzen des Vorstellbaren mehr. Der Horizont des Musikalischen, er war noch lange nicht in Sicht- und ebenfalls nicht in Hörweite. Er expandierte. Und mit ihm sein Umfeld.
Kelkheim wurde ab 1979 immer wichtiger – falls das überhaupt noch möglich war. Hier wurde getanzt, hier wurde getrunken und gesoffen, hier wurde gekifft und gebumst. Erste Freundinnen kamen und gingen, kurze Bekanntschaften wurden geschlossen und wieder verworfen.
Immer, wenn der inzwischen siebzehnjährige Matthias Röhr das Haus in Liederbach verließ, um sich auf den Weg nach Kelkheim zu machen, hatte er einen Stapel Platten unter seinen Arm geklemmt. Nach ein paar Monaten, die Anzahl der Platten, die er mitnehmen wollte, wuchs beständig, steckte er das Vinyl in Einkaufstüten. Und immer wieder trug er auch Double Live Gonzo! von Ted Nugent spazieren.
Das Album wurde rauf- und runtergehört. Beinharter Rock, tiefer gestimmte Gitarren (gern eine untypische Gibson Byrdland, die zu Teds Markenzeichen avancierte), wilde und absolut unangepasst aussehende Typen, die ziemlich ernst nahmen, was sie sangen. Lange Haare, Bärte, Lederjacken. Und dazu auch noch