Gonzo. Matthias Röhr
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Er mochte keine Lehrer, keine Staatsgewalt, keine Parteipolitik, aber noch viel weniger hatte er Verständnis für diejenigen, die sich all diesen Irrungen und Wirrungen unterwarfen, ohne sie zu hinterfragen.
Von acht Uhr morgens bis dreizehn Uhr fünfzehn war krassestes Aus-dem-Fenster-gucken-und-Träumen angesagt. Auch der Musikunterricht konnte ihn nicht mehr retten, so gern er auch Herrn Ullrichs Ausführungen zuhörte. Ihm würde Matthias auf ewig dankbar sein. Dafür, dass dieser eine coole Lehrer ihn an die progressiven Rockbands herangeführt hatte, unter denen Deep Purple noch die zu ihrer Zeit harmloseste war.
Die neunte Klasse musste er schon zwei Jahre zuvor wiederholen, und die Mittlere Reife stand im Sommer ʼ79 mehr als nur auf der Kippe. Es gab gutes, kaltes Dosenbier in den Pausen, auf die er immer so sehnsüchtig wartete wie der Häftling auf den Besuch seiner Liebsten. Diese kurzen zwanzigminütigen Momente der Freiheit rochen zwar noch immer grauenhaft-übel, besonders dann, wenn man den Jungentoiletten zu nahe kam, aber diese Momente gaben Matthias auch die Möglichkeit, seine ganze Ablehnung dem System gegenüber zur Schau zu stellen.
Und wie er das genoss.
Direkt angrenzend an das Schulgelände lag der Sportplatz mit seiner angeschlossenen Vereinsgaststätte. Hier trafen sich dreimal wöchentlich die Ingos, Kalles, Günters, Haralds und Dietmars des Ortes, um ordentlich abzupumpen und um zwischen zwei Schoppen die Ballkünste der eigenen Söhne zu kommentieren.
„Nimm ihn nisch mit de Pick, verdomm nochmoar!“
„Bub, jetzt schieß endlisch!“
„Eieiei … aus deinem Jung wird nie ei gescheider Fussballeeer, gloob mir.“
Der Wirt hieß Klaus W. und war eigentlich ein ganz guter Typ. Nach ein paar Wochen des Abtastens dauerte es nicht mehr lange, da hatte W. – pünktlich zum Große-Pause-Klingeln –, das Bier für Matthias und seine Kumpels auf der Theke stehen. Und dann wurde der Kopf in den Nacken gelegt, das Maul weit geöffnet und das Bier geext.
Nachdem man festgestellt hatte, dass man auch in weniger als zwanzig Minuten mehr als einen Liter Gerstensaft trinken konnte, hatte sogar die Lehranstalt etwas Gutes.
Die Realschule hörte unwiderruflich nach der zehnten Klasse auf, doch blieb man als Schüler in den Vorjahren mindestens einmal „kleben“, so war man automatisch immer ein Stückchen älter, stärker und größer als der Rest. Und man gab den Ton an.
Zusammen mit Oliver, der schon immer als der Klassenstärkste galt, und einigen anderen „Null-Bock-Typen“ wurde geraucht, gepöbelt und gesoffen. Pünktlichkeit? Das Einzige, was Matthias zu dieser Zeit pünktlich wahrnahm, war das Klingeln zum Schulschluss.
Und weil das begierige Warten auf den Nachmittag auch unweigerlich dazu führen musste, dass man sich kaum noch mit zu machenden Hausaufgaben beschäftigen wollte, war die logische Konsequenz klar. Und sie bedeutete eben nicht nur, dass man ihm den Realschulabschluss im Sommer 1979 verweigerte, sondern auch, dass man diesen ungehobelten, immer nach Nikotin und Alkohol riechenden, in Jeans und US-Army-Hemden gekleideten, langhaarigen, unerziehbaren Halbstarken zusammen mit fünf weiteren Krawallmachern von der Eichendorffschule schmiss.
Das hatte gesessen.
Damit sah es für das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland nach einem Sieg innerhalb von nur wenigen Runden und für Matthias „Gonzo“ Röhr nach einem Knock-out aus. Das Land verpasste dem rebellischen Teenager hier, der partout weder hören, geschweige denn zuhören wollte, einen ersten harten Schwinger, der ins Schwarze traf. Das war schon kein Warnschuss mehr. Die Faust traf direkt auf den Solarplexus.
Daheim gab es eine Standpauke vom Allerfeinsten.
„Ist das dein Ernst, Sohn? Wie soll es jetzt weitergehen?“
Eigentlich war Matthiasʼ Rausschmiss aus dem Schulsystem nur folgerichtig. Besonders, wenn man die Entwicklung berücksichtigte, die er bis hierhin genommen hatte. Weniger als Trost, sondern vielmehr aus der Not heraus überreichte man ihm zähneknirschend einen Hauptschulabschluss, mit der Bedingung, sich in den letzten Wochen nicht mehr in der Schule sehen zu lassen.
Das Zeugnis fiel genau so aus, wie man es erwartete. Und schon damals war der Abschluss der Hauptschule nicht unbedingt der Garant für einen Ausbildungsplatz. Joachim Röhr war nicht amüsiert. Ganz und gar nicht.
Die letzten Schulwochen über ließ Matthias, der sich von nun an immer häufiger einfach Gonzo nannte, seine Tarnung fallen. Er gab einen Scheiß auf den Abschluss, den man ihm nicht geben wollte. Ihn kümmerten jetzt überhaupt keine Noten mehr, keine Klausuren, keine Hausaufgaben. Der gezielte Treffer der Eichendorff-Realschule in Kelkheim wurde von Matthias zwar registriert, aber danach konsequent ignoriert.
Was andere Schüler schon bereut hätten, nachdem ihre Eltern ihnen die Hölle heißgemacht hatten, löste bei ihm nur ein desinteressiertes Schulterzucken aus. Ein kurzes „Abbutze und weidermache“, das warʼs.
So was kam zuhause nicht gut an. Das konnte nicht sein Ernst sein, nicht als ältester Sohn der Familie. Nicht als der, der seinen drei Brüdern als Vorbild dienen und mit ihnen in die Zukunft schreiten sollte. Der Unfrieden kehrte in die eigenen vier Wänden ein – und Matthias? Der nahm das Gezeter und die Ermahnungen seines alten Herrn nur als weißes Rauschen von ganz weit weg wahr.
Es war zum Haare raufen. So hatte sich das Familienoberhaupt der Röhrs die Pubertät des ersten eigenen Sprösslings ganz bestimmt nicht vorgestellt. In ihm keimte zwar noch Hoffnung, dass es Karsten, Martin und Stephan Matthias nicht gleichtäten, aber eigentlich reichte das schon. Ein langhaariger, vermutlich Drogen nehmender Unterrichts- und Leistungsverweigerer, der zu allem Überfluss noch von der Schule geworfen wurde, war genug.
Egal, wie viele „ernste Wörter“ Herr Röhr mit seinem Sohn sprach, sie alle waren letztlich für Matthias doch nicht mehr als redundante Lehren über sein Leben, das nur er zu leben hatte. Darin hatte sich niemand einzumischen, auch nicht sein Vater.
„Mach dir keine Sorgen, ich komm schon zurecht.“
Und weg war er.
Eigentlich verständlich, dass Herrn Röhr die Geduld ausging, denn zu allem Überfluss begann das Fernsehen seit geraumer Zeit damit, Matthiasʼ Interesse für sich zu gewinnen. Disco mit Ilja Richter im ZDF, der von Radio Bremen produzierte und in der ARD ausgestrahlte Musikladen sowie ein paar andere Musiksendungen, die bislang eher das schlager- und popverwöhnte Publikum mit leichtverdaulicher Kost zufriedenstellten, änderten auf einmal ihre Marschrichtung.
Für die Bundesbürger gänzlich neue Bands, frisch aus dem United Kingdom eingeflogen, wurden vor den Kameras positioniert. Und nachdem das rote Licht aufleuchtete, durften diese Männer ihre Wut und ihr Anderssein im deutschen Fernsehen ausleben. Bundes-Michel und Biedermann lernten so ganz schnell, was die Jugend von damals tat, trennte man erst mal ihre Nabelschnur durch.
The Damned, The Stranglers und wie sie alle hießen … Und sie gaben ihre größten Hits zum Besten. Zwanglose Gedanken, Rebellion und eine unkontrollierbare Freude an der bedingungslosen Provokation. „Love Song“, „New Rose“ (The Damned), „No More Heroes“ (The Stranglers), natürlich „Tommy Gun“ und das immer junge „London Calling“ von den allmächtigen The Clash flimmerten über westdeutsche Mattscheiben.
Einmal empfangen, gaben sie einen ersten Eindruck davon ab, was in den nächsten Jahren als größte bislang gekannte Welle der jugendlichen Subkultur von der Insel aufs Festland schwappen