Gonzo. Matthias Röhr
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Zwei Punks, die zusammengehörten, eine kleine Gruppe bildeten und sich hier offensichtlich bestens auskannten, trafen auf eine leicht verloren wirkende andere Zweiergruppe, die dafür aber auch verdächtig schwer nach Punk aussah. Das konnte doch eigentlich nur eine von Fortuna höchstpersönlich eingefädelte Verkettung gänzlich unwahrscheinlicher Zufälle sein. Heiko und Matthias nahmen den Ball jedenfalls auf.
„Und so ging das ganze Beschnuppern und das Kennenlern-Ritual knappe drei Minuten hin und her, ehe die Straßenbahn angefahren kam“, erinnert Gonzo sich heute.
Als die Tram anhielt und sich schon die Türen öffneten, rief der dunkelhaarige Typ mit den Springerstiefeln und dem Pennermantel, der sich den beiden kurz und hektisch, mit starkem hessischen Dialekt als Stephan vorgestellt hatte, Matthias und Heiko zu sich rüber und fragte, wohin sie denn überhaupt vorhätten zu fahren.
„Na, nach Sachsenhausen“, antworteten sie ihm.
„Ne, vergesst das mal“, sagte er. „Kommt ins JUZ Bockenheim. Nehmt die Linie 18, fahrt bis eine Station nach der Messe, und da ist dann das JUZ direkt auf der anderen Straßenseite. Da gehtʼs ab.“
Dann stiegen die beiden ein und verschwanden. Und erst mal entschwanden sie auch für ein paar Stunden aus dem Wichtigkeitsradius von Matthias.
Heiko und er fuhren auch diesen Samstag nach Sachsenhausen, schüttelten Hände und tranken Bier. Ihm waren die liebgewonnenen Kneipen hier wichtiger als irgendein Jugendzentrum. Doch je weiter der Tag voranschritt, desto häufiger geriet er ins Nachdenken. Sachsenhausen war schön, aber Frankfurt war verdammt noch mal so viel größer als dieser Stadtteil mit seinen alten Kaschemmen, sodass sich ein Gedanke in sein Hirn einnistete, der sich nicht mehr ignorieren ließ, je näher der Abend kam.
„Heiko, wir müssen später dorthin fahren. Ins JUZ.“
Mehr Worte bedurfte es nicht. Ihm gingen diese beiden Typen nicht mehr aus dem Kopf. Die sahen nicht nur nach Punk aus (das taten inzwischen alle – auch die aus gutem Hause), die rochen und sprachen auch so. Das war filzig, das war echt. Die verkörperten exakt das Lebensgefühl, das er während seiner Reisen nach Frankfurt immer gesucht hatte, aber bislang noch nirgendwo finden konnte. Er spürte intuitiv, dass er dem Rat dieses Typen, der Stephan hieß und diesen dreckigen Pennermantel trug, unbedingt folgen musste …
Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen
(Johann Wolfgang von Goethe)
Rückblick. Sechzehn Jahre zuvor. Matthias erblickte am Montag, den 16. April 1962, als Ältester von vier Brüdern der Familie Röhr das Licht der Welt. Zur selben Zeit wurde etwa 6.500 Kilometer westlich, in Washington D.C., Ian MacKaye geboren. Beide kannten sich nicht. Sie würden sich auch niemals kennenlernen. Doch verband sie nicht nur dasselbe Geburtsdatum, sondern auch die spätere Liebe zur Musik. Insbesondere zum Punk, zu Ted Nugent und zur Gibson SG.
MacKaye sollte in den kommenden Jahren eines der ersten Punklabels in Washington gründen, während jemand, der sich Gonzo nannte, in Frankfurt fast zeitgleich auf drei Jungs traf, deren Band Böhse Onkelz hieß. Doch bevor Geschichte überhaupt zu Geschichte werden konnte, musste zunächst mal die Gegenwart zur Vergangenheit werden.
Die sechziger Jahre galten gemeinhin als das Jahrzehnt des Aufbruchs, des Widerstands und der Veränderung. Drei Schlagwörter. Sie klangen gut. In ihnen lag so viel Freiheit und der Wille, sich weiterzuentwickeln. Wenn man ein Ausrufezeichnen hinter sie setzte, konnte man sie gar als direkte Aufforderungen verstehen, die es dringend umzusetzen galt.
Wie ein roter Faden zogen sie sich durch das Leben von Matthias „Gonzo“ Röhr. Ein Leben, das nicht nur zu Beginn permanent in Bewegung war. Schon als die ersten Schritte selbstständig gegangen werden konnten, begann er damit, die Welt um sich herum noch viel genauer zu erkunden. Eine Welt, die auch noch ohne Tablet, UHD-Sender und Smartphones ganz wunderbar funktionierte.
Ein Kind durfte noch ganz und gar ein Kind sein. Ohne Eltern, die wie Helikopter um die Kleinen herumflogen. Die dabei immer besorgt aussahen. Immer aufpassten. Immer ängstlich waren. Die Familie war stets die kleinste Einheit des Daseins. Sie bildete das zentrale Element, an der sich jedes Familienmitglied ausrichtete und die Sicherheit gab. Die entbehrungsreiche Zeit nach dem Krieg, die Flucht der Eltern und Großeltern aus Schlesien und Thüringen hatte die Sippen ohnehin zusammengeschweißt. Eine Verbindung von Generationen, die so stark war, dass kein Blatt Papier dazwischen passte und keine Krise das Fundament zum Wanken bringen konnte.
„In meiner Kindheit waren wir den ganzen Tag unterwegs“, erinnert sich Matthias. „Erst wenn die Straßenlaternen angingen und meine Mutter uns vom Balkon zum Abendessen rief, sind wir nach Hause gegangen.“
Kind sein bedeutete nicht App-Store, sondern unbeschwert die Welt zu entdecken. Wenn der Fernseher überhaupt angemacht wurde, dann allerhöchstens einmal die Woche, um Flipper zu gucken. Ansonsten traf sich Matthias mit seinen Freunden, und das bei jedem Wetter. Sie spielten Cowboys & Indianer, voll ausgestattet mit Pfeil und Bogen, und lernten dabei spielend, wie man Lagerfeuer machte, sich in der Natur verhielt und dass ein Schnitt mit dem Messer beim Schnitzen stark bluten konnte. Keiner fragte, ob dieses Treiben politisch korrekt sei. Sie bauten Seifenkisten, bei denen ihnen erst während der Fahrt auffiel, dass sie die Bremsen vergessen hatten. Alle tranken aus einer Flasche, und niemand starb an den Folgen. Das Leben kannte kein Netz und keinen doppelten Boden. Jeder gebrochene Zeh, jede Schnittwunde und jede Beule gehörte dazu und war Teil des Kindseins.
In den Grundschulen in Eschborn und ab der dritten Klasse in Kelkheim war das Tablet noch eine kleine Tafel mit Griffel und Schwamm. Erst in der zweiten Klasse in Kelkheim kamen die ersten Hefte zum Einsatz. In den Sommermonaten trugen die Jungs jeden Tag kurze Lederhosen. Die Dinger waren praktisch, bequem und mussten eigentlich nie gewaschen werden. Mit einem kleinen Fahrtenmesser in der Tasche fühlte man sich stets für alle Hindernisse der Natur bestens gerüstet.
Die ersten Lebensjahre verbrachte Matthias in der Eschborner Lilienthalstraße. Dort standen in diesem Neubaugebiet, dicht an dicht, dreistöckige Häuser. Und direkt gegenüber lag eine große, fette G.I.-Kaserne.
Die Eschborner Bevölkerung bestand damals noch zu einem Teil aus Amerikanern, die dort stationiert waren. Auch einige Nachbarn von Matthias hatten amerikanische Wurzeln. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war etwas über zwei Dekaden vorüber, und aus den Feinden wurden langsam Freunde. Die größten Schutthaufen waren längst weggeräumt, und der Wiederaufbau der zerbombten Städte war fast abgeschlossen. Krauts und Amis passten gut zusammen, und so manche von den Schrecken des Krieges alleingelassene und traumatisierte Witwe verliebte sich in die großen, starken Jungs.
Matthiasʼ damals bester Freund und unmittelbarer Nachbar hingegen war kein Amerikaner, sondern Pakistani und hieß Gigi Dorani. Bei Familie Dorani gab es Lebensmittel, die der junge Matthias Röhr nur aus Erzählungen kannte. Cornflakes und Erdnussbutter zum Beispiel. Beim Probieren dieser Köstlichkeiten jagte eine Geschmacksexplosion die nächste, und alles schmeckte für ihn nach der großen, weiten Welt. Eine ferne Welt, die ihn noch Jahre später magisch anziehen sollte.
Matthiasʼ Vater Joachim war gelernter Kaufmann, der in Frankfurt-Höchst einen kleinen Lebensmittelladen führte. Wenige Jahre später wechselte er zu einem zentraleren Büdchen im Westend – direkt an der Messe. Die damals in Westend ansässigen Fabriken waren