Bunsenstraße Nr. 3. Dietmar Schmeiser

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Bunsenstraße Nr. 3 - Dietmar Schmeiser Lindemanns

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Grauen saßen wiederum auf dem Wagen, die Gewehre zwischen den Beinen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft sich diese Szene wiederholte. Was für einen Sinn die Übung hatte, konnte ich nicht erkennen, beeindruckt hat sie mich doch. Es war mir unverständlich, wie Menschen so schnell, so akkurat einen Wagen besteigen konnten. Maschinen hätten es nicht besser gekonnt. Gestört hat mich nur das unverständliche Gebrüll des Obersoldaten.

      Wer darauf hoffte, es käme noch besser, noch lauter, noch maschinenhafter, der hatte sich getäuscht. Ich erinnere mich an kaum einen Panzer, eine Flak oder eine Pak. Wahrscheinlich war kein Kriegsgerät mehr in Karlsruhe.

      Wie gesagt, es war ein schöner Sommertag, wie es den in Karlsruhe häufiger geben mag als in anderen deutschen Städten, eben wärmer und sonniger. In einem der Kasernenhöfe bildete sich ein großer Kreis von Zuschauern auf Empfehlung des Lautsprechers, aus dem zuvor diese unheimliche Musik erschallt war. Plötzlich, weiß Gott woher, kamen zwei Radfahrer, diesmal nicht in Grau. Nein, ganz bunt angezogen mit hässlichen, furchterregenden Gesichtern, jedes mit unwahrscheinlich dickem rotem Mund, weiß umrandet, von einer Knollennase überragt, über der riesige Augen leuchteten und ein runzliger Glatzkopf thronte. Solche Menschen hatte ich noch nie gesehen. Und wie sie angezogen waren: bunter Ringelpullover und grelle Hosen. Wer kleidet sich schon so? Eines musste man ihnen allerdings lassen: Sie konnten unwahrscheinlich schnell und geschickt Rad fahren. Kreischend jagten sie hintereinander her. Sie schrien, beschimpften sich, lachten wieder. Je wilder sie es trieben, um so mehr freute sich das Publikum. Mir war das alles fremd. Ich hatte eher Angst. Die Zuschauer fanden die bunten Kerle lustig und grölten. Ich wollte kein dummes Kind sein, das die Scherze der Großen nicht versteht. Ich versuchte auch zu lachen. Ob meine Mutter gelacht hat? Ich glaube nicht. Sie lachte schon lange nicht mehr. Sie hatte eisern ihre Pflicht getan, indem sie meinem Bruder und mir das geboten hatte, was eine Stadt im Kriege zu bieten hat, eben so einen Tag der Wehrmacht, ein Vergnügen, das nichts kostete.

      Wehrmacht? Hatte diese Wehrmacht ihr nicht schon zu viel geboten? Ihr den Mann aus dem jungen Haus genommen und in ein unwirtliches Land geschickt? Dort sollte er uns vor einem gewissen Iwan schützen, wer der auch immer sein mag. Nein, der Vater kam ebenso seiner Pflicht nach, wie sie es jetzt tat. Wir hatten uns daran gewöhnt, in einem Land zu leben ohne Väter. Die hatte der Krieg in Viehwaggons an die Front gefahren. Wo die auch immer sein mag. Auf jeden Fall, die Väter waren weg. Ein paar Alte waren noch da und ein paar Braune, die waren unabkömmlich. Und eben noch diese beiden Clowns, welche unentwegt schrien und Dinge machten, deren Sinn ich nicht verstand. Ein Clown verlor bei der unentwegten Raserei das Vorderrad seines Gefährtes. Alle schrien auf. Den Clown schien das wenig zu stören. Er fuhr mit einem Rad weiter. Alle lachten. Mich dauerte er. Mein Bruder reagierte auch nicht. Zu lachen hatten anscheinend nur die Großen – außer unserer Mutter.

      An den Fahrrädern der Clowns ging noch vieles kaputt. Ich bedauerte die zwei immer mehr. Die Großen lachten weiter. Warum eigentlich? Weil die Clowns Pech hatten? Weil denen alles kaputtging? Wo doch sowieso so viel kaputtging. Wie viele Häuser waren schon in Schutt und Asche gegangen! Dabei haben die Großen nicht gelacht. Geheult und geschrien haben sie. Ich habe nicht geweint. Ich habe zugesehen, als die Hausbewohner in der Eisenlohrstraße vor einem rauchenden Trümmerhaufen standen, am helllichten Tag, und heulten. Ich habe nur geguckt und mich gewundert, wie das Dach des Hauses fast unbeschädigt auf einem Schuttberg lag, dem Rest von drei Stockwerken, und es hatte nach verbrannten Lumpen und Leuchtgas gerochen.

      Irgendwann gab es dann über die Clowns nichts mehr zu lachen. Die Leute klatschten und verliefen sich.

      Da gab es noch eine Gulaschkanone, aus der Erbsensuppe geschöpft wurde. So schmeckt der Krieg.

      Dann knallte es noch. Zum Militär gehört das Schießen. Da war ein Stand aufgebaut, von einer Absperrung aus Holzbalken umgeben. Schießen ist gefährlich! An einem Kopfende des Schießstandes standen zwei Soldaten mit einem Gewehr und allerhand Volk um sie herum. Jeder, der wollte, durfte schießen. Die Soldaten öffneten das Schloss am Gewehr, gaben eine Kugel hinein und der Schütze lehnte sich auf einen Balken, zielte, und schon krachte es. Das Ziel war vorgegeben. Am anderen Ende des Schießstandes war ein fetter Blechmann aufgebaut, auf den galt es zu schießen. Rums, da fiel schon wieder ein Schuss. Edwin und ich schreckten nur ein wenig zusammen. Von den vielen Luftangriffen, die wir überlebt hatten, waren wir gestählt. Der fette Mann, auf den es zu schießen galt, sah gemein aus. Er rauchte eine dicke Zigarre, sein Bauch quoll aus Hose und Weste. Wer mochte wohl dieser Blechmensch sein, der schon einige Einschusslöcher hatte?

      Das ist der Churchill, wurde uns erklärt. Das sei der böse Mann, der Deutschland den Krieg erklärt habe und jetzt die vielen Bomben auf unsere Stadt abwerfen ließe. Wer wollte hier zurückstehen und ihm nicht eine aufs Fell brennen?

      Da waren etliche, die es versuchten. Es krachte ganz schön. Neue Löcher hat der Kerl aber keine bekommen. Das bemerkte ich schon. Mutter erklärte, dass hier nur mit Platzpatronen auf Churchill geschossen werde. Alles andere sei zu gefährlich. Mit richtigen Patronen schieße man an der Front. Offensichtlich war der Churchill dort nicht, schloss ich in meinem kindlichen Gemüt. Sonst hätte man ihn längst erschossen, und er könnte keine Bomben mehr auf uns werfen, und die Leute in der Eisenlohrstraße und der Nuber hätten ihren Frieden gehabt.

      Ich habe eine natürliche Begabung, mich vorzudrängen, was mir beim Schlangestehen vor den Geschäften zugute kam. So stand ich bald neben dem Soldaten, der die Schießinstruktionen erteilte und einem die Flinte in die Hand drückte. Es galt, den Kolben gegen die Schulter zu drücken, den Kopf etwas über den Kolben zu beugen und sich mit den Ellbogen abzustützen. Für mich war der Schießprügel zu groß, zu schwer. Außerdem, beim Abfeuern gab es einen ganz schönen Schlag gegen die Schulter. Das hatte ich beobachtet. Ich hätte es doch besser nicht versuchen sollen. Mich jetzt aber zu drücken, wäre ein schlechtes Beispiel für meinen kleinen Bruder gewesen. Schließlich war kein Vater mehr da, weshalb ich der Tapfere sein musste. Auch Mutter wünschte und brauchte einen braven Jungen. Feig durfte ich nicht sein! Und schon gar nicht heute, wo es galt, dem Churchill zu zeigen, wer wir waren.

      Der Soldat ahnte meine Ängste. Dennoch hatte er schnell für mich die Knarre geladen und mir diese in die Hand gedrückt. Geladen schien sie mir noch schwerer. Hätte ich nicht den Lauf auf den Balken gelegt, ich wäre samt der Flinte umgefallen. „So triffst Du den Churchill nicht“, meinte der Soldat und half mir, das Gewehr auszurichten. So wurde ich ein richtiger, kleiner Soldat. Jetzt galt es, den Hahn abzuziehen. Der Soldat lehnte sich über mich und unterwies mich auch hierzu. Gleich würde es fürchterlich krachen und ich bekäme einen heftigen Schlag gegen meine rechte Schulter. Ich zauderte. In solchen Momenten beginnen die Gedanken zu rasen. Immerhin sollte ich auf einen Menschen schießen, auch wenn der nur aus Blech war und der böse Churchill ohnehin.

      Ich habe nicht geschossen. Ich war ein Feigling, und wir haben den Krieg verloren.

      Still schweigt Kummer und Harm

      Nach vielen Monaten der Hoffnung und des Leides war unser dreiunddreißigjähriger Vater im Heimatlazarett an den Folgen einer russischen Maschinengewehrgarbe gestorben. Unsere allsonntäglichen Fahrten mit der Eisenbahn in die Klinik nach Wiesloch bei Heidelberg waren zu Ende. Der Sommer und der Herbst vergingen schweigsam. Der große Weltatlas war weggeräumt worden, der bislang aufgeschlagen auf Vaters Schreibtisch lag. Es war die Karte von Russland zu sehen gewesen. Mit buntköpfigen Nadeln waren die Aufenthaltsorte unseres Vaters nach jedem Feldpostbrief von Mutter gekennzeichnet worden.

      Es war kalt und klamm in unserer Wohnung geworden. Drei Zimmer waren beschlagnahmt, Ausgebombte waren eingewiesen, das Möbel zusammengestellt oder in die Mansarde gebracht worden. Die Einrichtung unseres Esszimmers hatte Mutter schweren Herzens verkauft. Die Hoffnung auf bessere Zeiten waren begraben.

      Der Spätherbst ging zu Ende.

      Jeden Abend brannte jetzt über dem Wohnzimmertisch eine einsame Glühbirne unter einem großen

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