Bunsenstraße Nr. 3. Dietmar Schmeiser

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Bunsenstraße Nr. 3 - Dietmar Schmeiser Lindemanns

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Stille wieder eine Detonation, ohne jedes Vorzeichen. Ein Blindgänger, dem es erst jetzt einfiel zu explodieren? Dann heulten wieder Bomben. Alle stürzten wieder zu Boden. Frau Bresch begann ein Gegrüßest-seiest-Du-Maria.

      Irgendwann war Entwarnung geblasen worden. Ich war sehr müde. Wir gingen in die Wohnung zurück. Wir schliefen in jenen Tagen alle im großen Elternschlafzimmer. Ich in Vaters Bett, mein Bruder im Kinderbettchen. In das konnte er jetzt nicht gelegt werden. Aus dem Kamin war eine Rohrabdeckung durch den Luftdruck herausgeschleudert worden, zusammen mit einer Fontäne von Ruß, die sich über Edwins Bett ergossen hatte.

      Es war im frühen Herbst des vierten Kriegsjahres gewesen, als dieser schwere Angriff der Royal Air Force besonders heftig die Weststadt getroffen hatte. In der Körnerstraße sei eine Luftmine detoniert, die so schwer wie ein ganzer Lastwagen gewesen sein soll. Die Engländer hätten eine neue Methode entwickelt: Den Bomberverbänden würden sie spezielle Suchflugzeuge voranschicken, die strahlendhelle Leuchtmarkierungen absetzten, wonach sich die Bombenschützen richten könnten. Die Erwachsenen schämten sich nicht, sie als Christbäume zu bezeichnen.

      Zum Nikolaustag waren für Karlsruhe wieder Christbäume gesetzt worden. Unser Herr Milch hatte aber vorgesorgt. Neue Flaks seien aufgestellt worden, die so viele Engländer abgeschossen hätten, dass der Rest schnell das Weite gesucht habe.

      Manchmal haben wir auch unsere drei Flakgeschütze am Tag nach solch einem Bombenangriff aufgesucht. Diese standen unweit vom Ende der Bunsenstraße in den Schrebergärten. Wir haben nachgeschaut, wie viele Flugzeuge sie in der vergangenen Nacht abgeschossen hatten. Das konnte man ganz einfach erkennen. Für jeden Abschuss malten die Soldaten einen weißen Ring um das Flakrohr, und wir zählten ... heute Nacht wieder drei Abschüsse. Herr Milch wird uns noch mehr Flaks geben müssen.

      Weihnachten 1942 verlief ruhig. Vater war nicht nach Hause gekommen, hatte aber ein wunderschönes Geschenk, das unter unserem Christbaum seine Runden drehte: Eine Uhrwerkeisenbahn von Märklin. Eine Lokomotive mit Tender, Personen-, Gepäck- und Niederbordwagen, der einen Panzer geladen hatte, zog ihre Runden auf einer Gleisacht.

      Ein fast ruhiges Kriegsjahr folgte, in dem fleißig gewerkelt wurde: Weiße Pfeile wiesen auf die Luftschutzräume hin, Wegweiser zu künftigen Verschütteten. Große Bassins für Löschwasser wurden gebaut und die Sandsäcke auf den Dachböden vermehrt.

      Im sechsten Kriegsjahr folgten viele schwere Angriffe. Die Engländer hatten den Todesfächer entwickelt, den sie mehrfach über Karlsruhe ausbreiteten; den schlimmsten im Herbst, wo sie sinnigerweise den anzufliegenden Christbaum exakt über dem Engländerplatz postierten. Der Verband von vielen hundert Bombern hatte diesen fächerförmig zu kreuzen, um nach einer genau berechneten Zeitspanne seine Brandbomben auszuklinken. Trotz vieler hundert Toter hatte Karlsruhe wieder Glück. Den Engländern war es nicht gelungen, einen Feuersturm auszulösen, wie in der Nachbarstadt Pforzheim, wo in weniger als einer halben Stunde 20.000 Menschen verbrannten worden waren.

      Ich kann mich nicht an Einzelheiten erinnern. Eine Haltung hatte sich in mir gebildet: Dir kann nichts passieren. Ich habe noch jeden Angriff überlebt. Keine einzige Wunde war mir geschlagen worden. Und immer, wenn wir – zuweilen erst am frühen Morgen – vom Keller in die Wohnung gingen, stürzten wir von einem ins andere Zimmer, um nach Schäden durch Luftdruck zu suchen. Nur ein einziges Mal war eine Fensterscheibe geborsten.

      Fensterglas gab es keines. Zum Ersatz wurde eine Art Fliegendraht, in Kunststoff getaucht, angeboten. Mutter nagelte diesen in den Rahmen. Besonders eindrucksvoll fand ich, dass eine gläserne Lampenschale auf das Bett gefallen und ganz geblieben war. Sonst war unsere Wohnung aber unversehrt geblieben.

      Vielleicht verdanken wir das auch zu einem wesentlichen Teil Herrn Metz aus dem obersten Geschoss. Er besaß nicht die Fähigkeit wie unser Herr Professor, die Damen im Keller kurzweilig zu unterhalten, aber er hatte wohl sehr bald herausgefunden, dass die Alliierten die Wohngebiete nach einem bestimmten System bombardierten. Sie warfen zuerst die Brandbomben. Und wenn die Menschen aus ihren brennenden Häusern stürzten, kam ein zweiter Angriff mit Sprengbomben. Die Piloten brauchten sich nur noch nach den brennenden Häusern zu richten, um ihr Mordwerk zu vollenden. So stürmte Herr Metz nach der ersten Angriffswelle auf den Speicher und warf eigenhändig die brennenden Stabbomben aus dem Fenster auf die Straße. Ich habe verschiedentlich am darauffolgenden Tag die Brandstellen im Speicherboden bestaunt, die mit Sand abgedeckt waren. Noch ehe die zweite Angriffswelle mit Sprengbomben anrollte, saß Herr Metz wieder im Keller, und unser Haus war gerettet. Ich bekam ungeheure Lust, mit Herrn Metz auch einmal auf den Speicher zu rennen, ohne die geringste Chance hierfür zu bekommen. Kaum war Herr Metz durch die Luftschutztür verschwunden, wurde diese von innen wieder fest verschlossen. Nicht einmal sein Sohn Richard, der viel älter war als ich und so schöne Stukas malen konnte, durfte mit. Er konnte mir aber in vielen Farben die Beobachtungen seines Vaters schildern, wie die feindlichen Flugzeuge erst einmal Fallschirme abwürfen, an denen Leuchtkerzen hingen, die die ganze Stadt taghell ausleuchteten. Dann würden verschiedenfarbige Markierungen abgeworfen, die den Bombern zeigten, welches Gebiet heute bombardiert werden sollte. Auch er sprach von den merkwürdigen Christbäumen, die doch wahrhaftig keine sein konnten. Altklug erklärte mir Richard: Wer diese Zeichen lesen könne, wisse, welcher Stadtteil heute Nacht verbrannt würde. Mein fixer Herr Milch, der Generalluftzeugmeister, stand jetzt blöd da mit all seinen Verdunklungsaktionen.

      In einer einzigen Nacht sind eine halbe Million Brandbomben auf Karlsruhe geworfen worden! Die Innenstadt war bald völlig zerstört. Die Trümmer habe ich gesehen. Gaffend stand ich bei einem riesigen Blindgänger. Sein Stahlmantel war geborsten und gelbes Pulver rann aus ihm heraus. An der Kreuzung Yorkstraße/Kaiserallee hatte eine Bombe ein solches Loch gerissen, dass man den großherzoglichen Abwasserkanal sehen konnte, der einem richtigen Eisenbahntunnel Konkurrenz hätte machen können.

      Aus Angst vor Tagesangriffen durch die Amerikaner verließen wir aber kaum noch die Bunsenstraße. Am Morgen besuchte ich für zwei Stunden die Gutenbergschule, solange diese noch nicht zerstört war. Sonst wagten wir uns nur noch in die Kriegsstraße zum Klingele, um Milch zu holen. Brot gab es neben dem Gemüseladen Friedrich und dann noch an der Ecke zur Kriegsstraße bei Feinkost Siegrist, wobei wir den Zusatz Feinkost getrost vergessen können. Der stammte aus einer ganz anderen Zeit. Auch den Metzger Höpfinger gegenüber von Siegrist können wir getrost vergessen. Einkäufe dort waren Seltenheit.

      Am schrecklichsten waren für uns Kinder diese Tagesangriffe. Während wir in der Nacht nach der Bombardierung ins Bett gesteckt wurden und nicht mitbekamen, was sich auf den Straßen abspielte, konnte Mutter am Tag mich nicht immer einsperren. Noch heute bricht beim Geruch von Leuchtgas oder brennenden Lumpen in mir diese Erinnerung durch. Das ist so eine Mischung von Davongekommen, Neugierde, Mitgefühl und Wut. Nach einem solchen Angriff erwachten die Menschen aus ihrer depressiven Apathie. Sie stürzten schreiend und heulend in die brennenden oder geborstenen Häuser und versuchten, ihre Habe zu retten. Ich habe nur Bruchstücke von solchen Bildern noch in Erinnerung. Die Brandstätten waren meist schon gelöscht und schwelten vor sich hin, bis ich auf die Straße durfte. In mir entstand eine Mischung aus bösen Gefühlen zwischen Sensation und Schmerz, wenn ich etwa die Verzweifelten beobachtete, die unter den Alleebäumen in der Kriegsstraße zwischen ihren ausbrennenden Häusern, Trümmerbergen und gerettetem Möbel standen.

      Es verbleibt noch ein Erinnerungsfetzen aus der Gutenbergschule: Während das Schulhaus der Mädchen schon völlig ausgebrannt war, hatte das Knabenhaus erst wenige Treffer zu verzeichnen. Mitten im Unterricht hatten die Sirenen geheult, und unser Lehrer Huck war mit uns in den Schulkeller geflüchtet. Zu mehreren Hundert saßen wir über Stunden ohne Essen und Trinken. Verzweifelt versuchte Herr Huck uns zu unterhalten. Bald befand ich mich vor den Mitschülern stehend, einen Taktstock in der Hand, „Der Mai ist gekommen“ dirigierend. Es war kein Mai, und ausgeschlagen hat auch nichts, bestenfalls eingeschlagen.

      Unsere Karlsruher Tageszeitung „Der Führer“ füllte sich mit immer mehr Todesanzeigen.

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