Im Weihnachtswunderland. Gisela Sachs
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Gloria legte die Blumen in die Zuchthalle zu den anderen Eiswunderschneeglöckchensträußen. Sie sollten Wurzeln ziehen. Eiswunderschneeglöckchen ziehen nur Wurzeln im Eiskristallwunderland, aber nicht immer, nur manchmal. Und nur dann, wenn sie vom richtigen Prinzen geschenkt werden.
Gloria hatte die Namen der Prinzen auf eine Karte geschrieben, sie auf einen kleinen Stock gespießt und sie zu den Blumen in den Topf gesteckt. Sie schaute einmal pro Woche nach, ob Wurzeln sprießen. Aber keines der Blümchen machte Anstalten, Würzelchen zu bilden.
Natürlich konnte die Eiskristallkronprinzessin die viele Arbeit in der Weihnachtszeit nicht alleine bewältigen, sie hatte unzählige Helfer in der Familie, fleißige kleine Eiskristallprinzen und Eiskristallprinzessinnen, die liebend gerne beim Geschenke verpacken, halfen. Sogar mit einigen Zauberern arbeitete sie in der Weihnachtszeit zusammen. Die Einkaufsmöglichkeiten im Eiskristallwunderland waren begrenzt, damals. Und es gab auch nur sechs Rentiere im ganzen Land. Und die waren braun. Und so mussten die Zauberer zaubern und zaubern und zaubern.
Glorias Lieblingszauberer hieß David. David war ein hübscher, junger Zauberer, der mit einem unbekannten Flugobjekt aus Deutschland angereist kam. Es weilten noch Zauberer aus Rumänien, Russland, England, Schweden, Amerika, Australien und Frankreich im Schloss. Ihre Hubschrauber standen rund um den weihnachtlich geschmückten See. Die arabischen Zauberer waren auf fliegenden Teppichen angereist, die chinesischen auf Reisstrohmatten. Das war sehr lustig anzusehen und Gloria und die kleinen Eiskristallprinzessinnen und Eiskristallprinzen mussten darüber sehr lachen.
Die Eiskristallprinzessinnen und Eiskristallprinzen arbeiteten in Freude und Frieden zusammen. Sie sangen bei der Arbeit Weihnachtslieder, lachten und scherzten miteinander. Die Weihnachtszeit war die fröhlichste Zeit im Eiskristallwunderschloss. Da duftete es nach Lebkuchen, Glühwein, Zimt, Nelken, Piment, Anis, Mandarinen, Bratäpfeln, Vanille und Tannengrün.
Und zum Fest der Feste reisten alle Verwandte, Freunde und Bekannte aus allen Ländern der Welt an. Und die Zauberer aus aller Welt zauberten die feinsten Speisen aus aller Welt. Königliche Speisen. Vornehme Speisen. Speisen, von welchen die Bewohner im Eiskristallwunderland bis zu diesem Zeitpunkt noch nie zuvor gehört hatten. Zum Beispiel: geschmorte Entenkeule an Mangosoße mit Kartoffelklößen in Tannenzapfenform und buntem Blümchensalat oder Rinderfilet in Glühwein-PfefferMandelsoße mit schwedischen Fächerkartoffeln und mexikanischem Gemüse, gebratenes Karpfenfilet auf chinesische Art im Knuspermantel und Glasnudeln, Gänsebraten in Orange-BeifußSoße mit Kürbissen und Bratäpfeln, gebratene Wachteln mit Pfifferlingen auf Belugalinsensalat in Honigund Moosbeersoße. Und vorneweg gab es viele feine Süppchen: Rotweinsuppe mit Zimtäpfeln und weißer Schokolade, Maronensuppe mit gebratenen Toastzimtsternen als Einlage. Ganssuppe mit Kirschlikör. Champagnercremesuppe, mit orangefarbenen Brunnenkresseblüten verziert. Steinpilzbrühe mit Gemüse in Sternform usw. Und zu den Speisen gab es die erlesensten Getränke aus aller Welt. Und zum Nachtisch wurden an drei Tischen allerlei Süßes und Kuchen angeboten. Eine Reise durch die Backstuben der Welt. Es gab Honigkuchentürmchen, Kürbiskernkipferl, Maronitaler, Linzersterne, Datteln in Mürbeteig, Ingwerplätzchen, Christbrötchen, Rübensirupsterntalerplätzchen, Schokoladecookies und Unmengen andere Kekse. Vielfalt müsse sein, meinte die noch amtierende Eiskristallkönigin Alina. Es wäre immer gut, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Und alle Menschen im Schloss gaben der Königin recht. Es gab aber auch einfachere Gerichte wie gebratene Hühnchen, Spanferkel, Ochs am Spieß, Bratwürste, Kartoffelsalat, Nudeln, Eierspeisen und Süßspeisen. Und zu allen Speisen gab es Brot. Die Bewohner des Eiskristallwunderschlosses liebten es, Brot zu essen. Die Bäcker backten jeden Freitag Unmengen von Laiben im eigenen Backhaus. Sie nannten das Brot ‚gesegnetes Himmelsbrot’. Und um den Schutz für das Lebensbrot zu erflehen, ritzte Königin Alina eigenhändig mit einem Messer ein Kreuz in jeden Laib und bat: »Gott segne dieses Brot.«
Alle Zauberer benutzten die gleichen Zauberstäbe wie Harry Potter. Und alle hatten dieselbe schwarze Nickelbrille wie Harry Potter auf der Nase. Nur David nicht. Der hatte sich so richtig schön gemacht. Er trug eine Jacke aus dreierlei Stoff. Die hochgeschlagenen Ärmel waren mit Seide verziert. Er trug eine goldene Hose und ein goldfarbenes Hemd. Um den Hals hatte er eine cremefarbene Schleife gebunden. Cremefarben war auch sein Einstecktuch, seine Stiefel, seine Handschuhe. David sah nicht nur aus wie ein Prinz, er war auch einer. Ein Kronprinz, der zaubern konnte. Aber das wusste Gloria damals noch nicht.
Wie immer saß David nach getaner Arbeit auf dem Boden und spielte traumverloren auf seiner Gitarre. Er sang Weihnachtslieder: O du Fröhliche. Jingle Bells. Leise rieselt der Schnee. Alle Jahre wieder. Kommet ihr Hirten. Schneeflöckchen, Weißröckchen. Heidschi, Bumbeidschi. Und vergaß dabei Zeit und Raum. Immer wieder schielte Gloria nach David. Er bemerkte es aber nicht.
Gloria gefiel die Art, wie David die Gitarre spielte. Wie er traumverloren sang. Sie mochte seine samtweiche Stimme, seine stattliche Figur, seinen Humor, die Art, wie er lachte, wie er aß, sich bewegte. Sie mochte einfach alles an ihm. Sogar sein Name gefiel ihr außerordentlich gut. Es war ein Name, der zur damaligen Zeit sehr selten vorkam, Gloria kannte ihn aber von der Bibel her. Dort steht der Name David tausendundein Mal geschrieben. Er ist der dritthäufigste Name in der Bibel, weiß die gottesfürchtige Eiskristallprinzessin.
»Wenn das kein Zeichen ist«, flüsterte sie vor sich hin. »Er weiß mit den Schneeschimmeln und Eismondlichtschatteneseln umzugehen, kann köstlich zarten Schneegänsebraten in Eiskristallcremesahnesoße zubereiten, ist schlau, immer gut angezogen. Und ich kann mit ihm über alles reden.«
Nach der Christmesse liefen die Eiskristallprinzessinnen durch die weihnachtlich dekorierten Kellerräume des Schlosses. Dort sollten sie ihre Weihnachtsgeschenke bekommen. Die kleinen Prinzessinnen hatten wunderschöne weiße Kleidchen an, die mit goldenen Glitzersternchen übersät waren. Gloria hatte die Leinenkleidchen für die Eisprinzessinnen selbst genäht, die Sternchen in exakt tausendundeiner Minute darauf gestickt. Die Eiskristallprinzessinnen hielten goldene Täschchen in den Händen, ebenfalls Kunststücke aus Glorias Nähstübchen. Und in diese goldenen Täschchen sollten sie ihre Weihnachtsgeschenke verstauen.
Gloria trug ein bodenlanges Kleid aus elfenbeinfarbiger Seide. Der Rock war weit geschnitten und sah wie eine offene Blume aus. Sie trug die Haare mit einem goldenen Kamm hochgesteckt, hatte einen elfenbeinfarbigen Spitzenschleier um den Kopf drapiert. Eine flauschige Pelzstola lag um ihre Schultern und ihre zierlichen Füßchen steckten in warmen, weißen Pelzstiefelchen.
Die Mädchenschar lief einträchtig bis zum hinteren Ausgang der Kellerräume. Dort gab es einen Weihnachtswunschraum. Und in diesem Weihnachtswunschraum standen viele Regale, in denen genau 1001 Geschenke untergebracht waren. Und von diesen 1001 Geschenken durften die Mädchen sich jeweils drei Päckchen aussuchen. Sie liefen in Zweiergruppen die Gänge entlang, tuschelten miteinander und kicherten. Sie waren aufgeregt und voller Vorfreude. Was die Päckchen wohl dieses Jahr verbargen? Geheime Botschaften vielleicht, so wie im Jahr zuvor?
Und dann standen die Eiskristallprinzessinnen sprachlos vor den Geschenken. Alle Päckchen waren wunderschön verpackt, sehr kunstvoll mit goldenen Schleifen, weißem Engelshaar und unzähligen Glitzersteinchen verziert. Sie funkelten und glitzerten im Schein der Deckenbeleuchtung um die Wette. Die Prinzessinnen liefen aufgeregt von einem Regal zum Anderen. Sie riefen staunend »aaah« und »oooh«, konnten sich wegen der Fülle an Geschenken aber für nichts entscheiden. Die Mädchen schüttelten und rüttelten die Päckchen, wogen sie in den Händen und versuchten zu erraten, was darin sein könnte. »Diamanten? Edelsteine? Kronjuwelen, Goldtaler vielleicht?«, riefen sie wild durcheinander.
Die Tür zum zweiten Raum war mit einem riesigen Riegel verziert. Er war mindestens zwei Meter dick und zehn Meter lang und das Messing funkelte und blitzte wie die Schneekristallblumen im Vollmondlicht. Die Prinzessinnen lauschten. Sie hörten Gesänge, wussten aber nicht, woher die Gesänge kamen.
Gloria